Konstatiert werden kann, dass im Arbeitszeitrecht erheblicher Reformbedarf besteht, wobei der Reformwille sowohl des nationalen als auch des unionsrechtlichen Gesetzgebers „verbesserungsfähig” ist. Das Arbeitszeitrecht ist – anders als die Bestimmungen des ArbSchG – durch typisierende quantitative Grenzwerte – gekennzeichnet (vgl. Baeck/Winzer, NZA 2020, 96, Kohte, Ausschussdrucks 19(11)83 v. 21.6.2018, S. 5; BAG, Urt. v. 24.8.2016 – 5 AZR 129/16, NZA 2017, 58).
1. Tägliche Ruhezeit von 11 Stunden (Art. 3 RL 2003/88/EG, §§ 3, 5 ArbZG)
Ruhezeiten sind wichtig und stehen in Art. 3 an der Spitze der RL 2003/88/EG (vgl. Kohte, Ausschussdrucks 19(11)83 v. 21.6.2018, S. 9). Die Digitalisierung der Arbeitswelt (Stichwort: Arbeit 4.0; hierzu Kollmer, NJW 2023, 473; Wiebauer, NZA 2016, 1430; Steffan, NZA 2015, 1409) und gleichstellungspolitische Aspekte (Vereinbarkeit von Beruf und Familie) erfordern eine Öffnung und Flexibilisierung des Arbeitszeitrechts. Vernetzung und Digitalisierung verbinden für immer mehr Beschäftigte „reale” und „virtuelle” Aktivitäten bei orts- und zeitübergreifendem Arbeiten (vgl. Kohte, Ausschussdrucks 19(11)83 v. 21.6.2018, S. 9; Giesen, Ausschussdrucks 19(11)83 v. 21.6.2018, S. 59), wobei eine „Entgrenzung der Arbeit” (sog. Work-Life-Blending, vgl. Kanzenbach, ARP 2021, 336), eine „Ausfaserung der Arbeitszeit” und/oder eine „ständige Erreichbarkeit” – auch und insb. im Urlaub – zu verhindern sind (Stichwort: Distanzierungsfähigkeit des Arbeitnehmers).
Höpfner/Daum (RdA 2019, 270) merken mit Recht und unter zahlreichen Nachweisen aus Rechtsprechung und Literatur an, der EuGH sei – aufgrund des fehlenden Muts und Willen zur politischen Gestaltung – dem antiquierten Regelungsmodell der Arbeitszeit-RL 2003/88/EG verhaftet. Dieses habe den körperlich hart arbeitenden, örtlich an den Betrieb gebundenen Arbeitnehmer zum Leitbild und entspreche in wesentlichen Punkten der deutschen Arbeitsordnung von 1938. Dass dies der heutigen Uneinheitlichkeit der Arbeitnehmergruppen mit ihren divergierenden Belastungen und Interessen – insb. vor dem Hintergrund der Digitalisierung – nicht mehr gerecht werde, sei offenkundig.
Aus der Zeit gefallen erscheine u.a. die strikte Differenzierung zwischen Arbeits- und Ruhezeit, die keinen Raum für Zwischenformen lasse (vgl. Franzen, ZESAR 2015, 407, 412). Auch die zwingende tägliche Ruhezeit (als autonomer unionsrechtlicher Begriff) von elf ununterbrochenen Stunden (Art. 3 RL 2003/88/EG; vgl. BAG, Urt. v. 18.1.2017 – 7 AZR 224/15, NZA 2017, 791) werde vielfach infrage gestellt und etwa eine Verkürzung auf neun Stunden sowie eine Ausnahme für kurzzeitige Unterbrechungen oder „geringfügige” Tätigkeiten vorgeschlagen (Höpfner/Daum, RdA 2019, 270 m.w.N.; Kollmer, NJW 2023, 473, 476; krit. unter Hinweis auf nicht frei disponible Obligationszeiten wie Schlafen, Pendeln, Nahrungsaufnahme und Hygiene von etwa 10,75 Stunden täglich Seiler, Ausschussdrucks 19(11)83 v. 21.6.2018, S. 52).
Ruhezeiten sind nicht nur ein arbeitsschutzrechtliches, sondern auch ein (gewerkschafts-)politisch besetztes Streitthema. Aus längeren Arbeitszeiten resultieren i.d.R. Bedarfe nach längeren Erholungszeiten. Und durch gekürzte Ruhezeiten können Erholungsbedarfe eben nur unzureichend gedeckt werden. Eine Mindestruhezeit von elf Stunden ist mit Blick darauf, dass der Tag nur 24 Stunden hat, zwingende Obligationszeiten und dem verständlichen Wunsch nach frei verfügbarer und selbstbestimmter Zeit in angemessenem Umfang (Stichwort: Zeitsouveränität) eine durchaus nachvollziehbare Größe. Dass der EuGH Ruhezeiten einen hohen Stellenwert beimisst, zeigt nicht zuletzt seine aktuelle Entscheidung zum Verhältnis von täglicher zu wöchentlicher Ruhezeit (vgl. EuGH, Urt. v. 2.3.2023 – C-477/21, NZA 2023, 349 „ MÁV-START”).
2. Tägliche Höchstarbeitszeit (§ 3 ArbZG)
Das deutsche Arbeitszeitrecht ist seit mehr als 80 Jahren gekennzeichnet durch Normierungen der täglichen Höchstarbeitszeit (vgl. §§ 3, 7 Abs. 1 Nr. 1a und b ArbZG). Durch Untersuchungen ist bestätigt, dass das Unfallrisiko nach sechs bis sieben Stunden, v.a. aber nach acht Stunden exponentiell ansteigt. Arbeitszeiten von mehr als acht Stunden am Tag sind nicht nur ein Unfallrisiko. Sie erhöhen auch deutlich den gesundheitlichen Verschleiß der Beschäftigten und das Eintreten vorzeitiger Erwerbsminderung und Erwerbsunfähigkeit (vgl. Kohte, Ausschussdrucks 19(11)83 v. 21.6.2018, S. 6).
Die Arbeitszeit-RL kennt – anders als § 3 ArbZG – keine tägliche Höchstarbeitszeit, sondern schreibt lediglich eine wöchentliche Höchstarbeitszeit fest, die zudem sehr flexibel ausgestaltet ist. Nach Art. 6 RL 2003/88/EG dürfen pro Siebentageszeitraum 48 Stunden Arbeitszeit nicht überschritten werden. Zudem lassen sich die Bezugszeiträume nach Art. 16, 22 RL 2003/88/EG noch deutlich ausweiten (vgl. Giesen, Ausschussdrucks 19(11)83 v. 21.6.2018, S. 59), was zu deutlich erhöhter Arbeitszeitflexibilität und gesteigerter Wettbewerbsfähigkeit führt.
Bereits das Weißbuch des BMAS zum Dialogprozess „Arbeiten 4.0” aus dem Jahr 2016 enthielt Überlegungen zu Möglichkeiten der Abweichung von der Tage...