Die Pflicht des Arbeitgebers zur Aufzeichnung der Arbeitszeit nach der Rechtsprechung des EuGH einerseits und des BAG andererseits variiert. Während der EuGH von einer Verpflichtung der Arbeitgeber durch die Mitgliedstaaten spricht (Umsetzungsakt in Bezug auf die RL, vgl. Fuhlrott/Garden, ArbRAktuell 2019, 263 264), sieht der Erste Senat des BAG (13.9.2022 – 1 ABR 22/21, a.a.O.) eine unmittelbare Verpflichtung der Arbeitgeber nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG in Bezug auf eine allgemeine Pflicht zur Aufzeichnung der Arbeitszeit, wobei die letztgenannten Interpretation zahlreiche Fragen, Bedenken und Widersprüche, insb. mit Blick auf Art. 20 Abs. 3 GG, aufwirft.
Letztlich geht es bei der Aufzeichnung der Arbeitszeit um eine menschengerechte Gestaltung der Arbeit und die Sicherstellung eines angemessenen Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer gemäß dem Schutzniveau der genannten europäischen RL. Erst die Erfassung der Arbeitszeit erlaubt ihre Kontrolle, was eine unverzichtbare Voraussetzung einer gesetzesgerechten, guten Arbeitszeitgestaltung und der Verhinderung von Missbrauch ist.
Entsprechend sind die Mitgliedsstaaten der Union und somit auch der deutsche Gesetzgeber aufgerufen und verpflichtet, dasjenige zu unternehmen, was „erforderlich” ist, damit den Beschäftigten der durch die Arbeitszeit-Richtlinie 2033/88/EG gewährte Schutz auch tatsächlich zukommt (vgl. Bayreuther, RdA 2022, 290, 293), was auch bei der betriebsverfassungsrechtlichen Mitbestimmung über die Rechtsprechung des Ersten Senats v. 13.9.2022 hinaus grundlegende praktische Fragen aufwirft (vgl. etwa LAG München, Urt. v. 22.5.2023 – 4 TaBV 24/23).
Dabei gilt es, den ungeplanten, vorbeschriebenen Gegensatz zwischen deutschem und europäischem Arbeitszeitrecht aufzulösen. Flexibilisierungsbedarf und diesbezügliche gesetzliche Umsetzungsmöglichkeiten des nationalen Gesetzgebers bei der Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung sind i.S.d. Wettbewerbsfähigkeit sinnvoll und sachgerecht zu nutzen. Ein sog. Gold Plating der RL 2003/88/EG erweist sich im europäischen Vergleich als wenig hilfreich, und sinnvoll, da es zwangsläufig Flexibilisierungsmöglichkeiten die Grundlage nimmt. Mit Lucius Annaeus Seneca kann man formulieren:
Zitat
„Es ist nicht zu wenig Zeit, die wir haben, sondern es ist zu viel Zeit, die wir nicht nutzen.”
Insbesondere darf die richtlinienkonforme Auslegung nicht zu einem Automatismus werden, der den Umsetzungsakt des nationalen Gesetzgebers in Bezug auf die europäischen Richtlinien in rechtlich unzulässiger und bedenklicher Weise, wider das Gewaltenteilungsprinzip und den ausdrücklichen Gesetzeswortlaut, ersetzt (vgl. Höpfner/Schneck, NZA 2023, 1; Benkert, NJW-Spezial 2021, 690).
Es widerspricht der Binnensystematik des ArbSchG, wenn der – dies anders bewertende – Erste Senat des BAG in seinem Urt. v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21 eine Arbeitszeiterfassungspflicht über § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG statuiert. Diese überraschende Vorgehensweise hebelt die eindeutige gesetzgeberische Begrenzung der Erfassungspflichten im ArbZG und in sonstigen, spezielleren Gesetzen aus (Stichwort: lex specialis) und ersetzt damit das gesetzgeberische Regelungskonzept unter Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG durch ein richterrechtlich entwickeltes Gegenmodell (vgl. Höpfner/Schneck, NZA 2023, 1, 4 f.).
ZAP F. 17, S. 957–972
Von Rechtsanwalt Dr. Joachim Holthausen, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Köln