Mit einem offenen Brief vom 6.10.2020 an die Direktoren und Präsidenten der Sozialgerichte und Landessozialgerichte in Deutschland hat sich die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) für die Stärkung der mündlichen Verhandlung ausgesprochen. Auch in der Sozialgerichtsbarkeit zeichne sich – wie bei den anderen Gerichtsbarkeiten – infolge der Corona-Pandemie eine deutliche Tendenz zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ab. Dieses Vorgehen laufe Gefahr, auch nach dem pandemiebedingten Notbetrieb zur üblichen Praxis zu werden. Die BRAK warnt vor den damit verbundenen nicht hinnehmbaren Einschnitten in die Rechte der Verfahrensbeteiligten.
Die mündliche Verhandlung bilde das Kernstück des sozialgerichtlichen Verfahrens. Sie fördere das Vertrauen in die Rechtsprechung und die Einhaltung eines fairen Verfahrens. In ihr kämen nicht nur der Amtsermittlungsgrundsatz, sondern auch die Grundsätze der Mündlichkeit, der Unmittelbarkeit und der Öffentlichkeit zum Tragen. Gesetzliche Einschränkungen dieser verfassungsrechtlich garantierten Grundsätze seien zwar unter gewissen Voraussetzungen erlaubt, jedoch keineswegs zwingend, weshalb von ihnen nur äußerst zurückhaltend Gebrauch gemacht werden sollte. In diesem Licht sei die gem. § 105 Abs. 1 S. 1 SGG eröffnete Möglichkeit, nach der das Gericht erstinstanzlich ohne mündliche Verhandlung im Wege des Gerichtsbescheids entscheiden könne, wenn die Sache keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten aufweise und der Sachverhalt geklärt sei, durchaus kritisch zu sehen. Denn die genannten elementaren Verfahrensgrundsätze erführen beim Verzicht auf die mündliche Verhandlung wesentliche Einschränkungen.
Die mündliche Verhandlung stelle für die Beteiligten des sozialgerichtlichen Verfahrens eine echte und unersetzbare Chance dar, ihren Standpunkt auch gegenüber dem Prozessgegner – d.h. oftmals gegenüber „dem Staat” – zu verdeutlichen und andererseits zusätzliche Informationen darüber zu erhalten, wie mit ihrem Begehren umgegangen und vielleicht auch künftig verfahren werde. Das erscheine gerade bei der Verwirklichung sozialer Rechte besonders geboten. Gleichzeitig könne dadurch auch die Akzeptanz einer gerichtlichen Entscheidung – insb. bei nicht anwaltlich vertretenen Klägern – erhöht werden, da sich der Bürger wahrgenommen fühle und nicht „Objekt” eines Gerichts sei.
Die BRAK bittet daher alle Richterinnen und Richter der Sozialgerichtsbarkeit dringend, aufgrund der genannten Erwägungen die mündliche Verhandlung zu stärken. Auch mit Blick auf personelle Schwierigkeiten, hohe Arbeitsbelastungen an den Sozialgerichten und die zusätzlichen Einschränkungen durch die Corona-Pandemie dürfe vom Grundsatz der mündlichen Verhandlung i.d.R. nicht abgewichen werden.
[Quelle: BRAK]