I. Verbreitung, Fehlen besonderer Regelungen
Elektronische Medien und das Internet prägen den Alltag einer breiten Mehrheit der Bevölkerung. Nach einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes waren 2015 in 88 % der privaten Haushalte in Deutschland ein PC und ein Internetzugang vorhanden. 74 % der privaten Haushalte verfügten Anfang 2015 über mindestens einen mobilen Computer, z.B. einen Laptop, ein Notebook oder Tablet, 93,5 % über mindestens ein Mobiltelefon (Zahlen der Statistik abrufbar unter: https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/EinkommenKonsumLebensbedingungen/AusstattungGebrauchsguetern/Tabellen/Infotechnik_D.html, Abruf vom 6.10.2016).
Die Menschen unterhalten E-Mail-Accounts, häufig bei mehreren Anbietern, pflegen Kontakte mit Hilfe von kostenfreien und kostenpflichtigen sozialen Netzwerken, nutzen Messenger-Dienste, telefonieren mobil, betreiben eigene Websites und Blogs, erledigen Bankgeschäfte online, kaufen in Online-Shops ein, zahlen über Zahlungsdienstleister, speichern vielfältige Daten auf dem eigenen Rechner und lagern Daten bei Cloud-Anbietern aus. Die Nutzung derartiger Geräte und Angebote ist seit Jahren ganz selbstverständlich, keineswegs nur für jüngere Menschen. So überrascht es nicht, dass viele Nachlässe längst auch Aktiva und Passiva aus der digitalen Welt umfassen.
Für dieses Phänomen etabliert sich der Begriff "digitaler Nachlass", der allerdings kein Rechtsbegriff, sondern lediglich beschreibend ist. Die Bezeichnung soll illustrieren, dass ein Nachlass u.a. elektronische Daten des Erblassers und eine Gesamtheit unterschiedlicher Rechtsverhältnisse des Erblassers einschließen kann, die informationstechnische Systeme berühren (vgl. die Definitionen von Deusch ZEV 2014, 2 f., und Gloser MittBayNot 2016, 12 f.). Das Erbrecht sieht keine besonderen Bestimmungen für den "digitalen Nachlass" vor. Auch in diesem Bereich steht also der Rechtsanwender vor der Aufgabe, ältere gesetzliche Regelungen von allgemeiner Tragweite auf neuere Entwicklungen zu beziehen.
II. Praktische Schwierigkeiten des Erben
Häufig standen die Erben dem Erblasser nahe und sind über dessen Verhältnisse gut informiert. Durchaus nicht selten haben aber die Erben kein vollständiges Bild über den gesamten "digitalen Nachlass", weil ihnen etwa einzelne Mitgliedschaften, Domains und Nutzer-Accounts des Erblassers unbekannt sind. Mitunter ergeben sich für die Erben Anhaltspunkte, denen sie nachgehen können, um weitere Nutzerkonten usw. zu ermitteln. Dies ist ausgesprochen mühsam und nicht immer gelingt eine vollständige Erfassung. Vielfach verbleiben zumindest teilweise Unklarheiten über Vertragsverhältnisse, Nutzungsrechte, Immaterialgüterrechte und den Datenbestand des Erblassers. Diese praktischen Probleme sind typischerweise besonders stark ausgeprägt, wenn die Erben nicht in engem Kontakt mit dem Erblasser standen. Ein solches Informationsdefizit der Erben ist keine neue Erscheinung: In früherer Zeit blieb etwa das Zeitschriftenabonnement des Erblassers bis zum Eingang der nächsten Jahresrechnung unbekannt, heute fehlen den Erben Informationen über Vertragsverhältnisse und Rechtspositionen des Erblassers, die sich auf den "digitalen Nachlass" beziehen.
Selbst wenn alle Rechtsverhältnisse ermittelt sind, haben die Erben regelmäßig keine Kenntnis von Zugangsdaten, z.B. Passwörtern, die der Erblasser für soziale Netzwerke, seine E-Mail-Accounts, Online-Shops oder das Online-Banking angelegt hat und die aus Sicherheitsgründen üblicherweise recht häufig geändert werden. In diesen Fällen sind die Erben auf Hilfe des Vertragspartners des Erblassers angewiesen, der die Zugangsdaten offenlegen oder zurücksetzen oder erfasste Vorgänge mitteilen könnte. Erfahrungsgemäß scheitert ein Zugriff der Erben häufig an standardisierten Praktiken der Vertragspartner des Erblassers, die eine Herausgabe von Daten oder eine Rücksetzung mangels eines – nach ihren eigenen Maßstäben – hinreichenden Nachweises der Erbenstellung ablehnen, eigene formale Anforderungen an den Nachweis der materiellen Berechtigung stellen oder auch Inhalte nach geraumer Zeit der Inaktivität löschen (vgl. zu den Praktiken verschiedener großer Anbieter Gloser MittBayNot 2016, 12, 18 f.; Steiner/Holzer ZEV 2015, 262, 264; Lange/Holtwiesche ZErb 2016, 125, 127; Herzog NJW 2013, 3745, 3746; Deusch ZEV 2014, 2, 3; Martini JZ 2012, 1145, 1146; Deutscher Anwaltverein, Stellungnahme zum Digitalen Nachlass – Stellungnahme Nr. 34/2013 v. 7.6.2013, S. 25 ff.).
Derartige Erschwernisse sind für die Erben ausgesprochen misslich. Eine Frist von sechs Wochen billigt ihnen das Gesetz für eine Ausschlagung der Erbschaft zu (§ 1944 Abs. 1 BGB). Die Erben werden anstreben, sich rasch, jedenfalls innerhalb dieser Ausschlagungsfrist, Klarheit über den Nachlass zu verschaffen, insbesondere über Verbindlichkeiten und eine etwaige Überschuldung, um sachgerecht über Annahme oder Ausschlagung entscheiden zu können. Ist eine Ausschlagung nicht mehr möglich, kann die Haftung der Erben nur noch durch eine Nachlassverwaltung oder ein Nachlassinsolvenzverfahren bes...