Sowohl die richterliche als auch die anwaltliche Meinungsfreiheit ist von den Gerichten in jüngster Zeit gestärkt worden. Das LG Neubrandenburg (Beschluss v. 12.7. 2019 – 23 Qs 5/19, rkr.) hat den Erlass eines Strafbefehls gegen drei Richter einer Schwurgerichtskammer abgelehnt, die einem Rechtsanwalt der Nebenklage "narzisstisch dominierte Dummheit" vorgeworfen hatten und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellte im Oktober fest, dass die Meinungsfreiheit von zwei Rechtsanwälten verletzt wurde, indem sie u.a. für die Äußerung, bei einer Richterin liege eine "große Vertrautheit mit dem Anwalt der Gegenseite" vor, zu einer Geldstrafe verurteilt wurden (Urt. v. 8.10.2019 – Beschwerde-Nr. 24845/13 u. 49103/15).
In dem ersten Fall des LG Neubrandenburg ging es um Beihilfe eines SS-Sanitäters zum Mord in tausenden Fällen im Konzentrationslager Auschwitz. Die Frage der Verhandlungsfähigkeit des hochbetagten Angeklagten war ein ständiger Reibungspunkt zwischen den Beteiligten; Gleiches galt für die Nebenklageberechtigung der betroffenen Anwälte. Von Anfang an sei das Verfahren durch alle Verfahrensbeteiligten "konfliktträchtig" geführt worden, stellte das LG später fest. So kam es dazu, dass – nachdem der Nebenklagevertreter der Strafkammer Rechtsbeugung vorgeworfen hatte – die Richter dies mit folgenden Worten in ihrem Beschluss kommentierten: "Soweit der Nebenklagevertreter [...] unter Verweis auf seine allein richtig seiende Ansicht in der in Aussicht gestellten Entscheidung der Kammer eine Rechtsbeugung sieht, ist das eine ersichtlich narzisstisch dominierte Dummheit".
Das war keine Beleidigung, so die Meinung sowohl des Amtsgerichts als auch im nächsten Rechtszug die des LG Neubrandenburg. Mit der Aussage sei nicht die Tatsache behauptet worden, der Nebenklagevertreter leide an einer medizinisch relevanten, narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Vielmehr stelle die gewählte Formulierung eine Reaktion auf den Schriftsatz des Nebenklägervertreters dar, ohne dessen Persönlichkeit als solche zu bewerten. Jedenfalls sei die richterliche Äußerung nach § 193 StGB gerechtfertigt. Der Nebenklagevertreter habe die Richter zuvor als potenzielle Straftäter bezeichnet, indem er ihnen Rechtsbeugung vorgeworfen habe. Auch wenn man dessen Ausführungen trotz der Schärfe der gewählten Tonart als im Rahmen des "Kampfes ums Recht" noch nicht als ihrerseits strafrechtlich relevant ansehen wolle, seien sie als polemisch und verletzend einzustufen. Dies habe nicht kommentarlos zur Kenntnis genommen werden können.
Das Verfahren vor dem EGMR betraf zwei portugiesische Rechtsanwälte, die in verschiedenen Verfahren Richterinnen in einem Fall per Brief eine "große Vertrautheit mit dem Strafverteidiger" und in dem anderen Fall eine "rassistisch motivierte Diskriminierung" vorgeworfen hatten. Daraufhin waren beide wegen Diffamierung und Ehrverletzung zu Geldstrafen verurteilt worden. Zu Unrecht, so der EGMR, denn die Äußerungen seien von der anwaltlichen Meinungsfreiheit gem. Art. 10 EMRK gedeckt gewesen. Beide Äußerungen, so der Gerichtshof, seien in Ausübung der beruflichen Tätigkeit der Anwälte gemacht worden. Sie seien allein im Interesse der Mandanten erfolgt. Die Grenzen der zulässigen Kritik seien nicht überschritten worden. Einen relevanten Schaden am Ruf der betroffenen Richterinnen konnten die Europarichter angesichts der rein justizinternen und nicht nach außen gedrungenen Äußerungen nicht feststellen.
Die Stärkung der Meinungsfreiheit vor Gericht ist in etlichen Kommentaren zu den beiden Entscheidungen bereits begrüßt worden. Der Deutsche Anwaltsverein (DAV) "hadert" allerdings ein wenig mit der Entscheidung des LG Neubrandenburg: Die Äußerungen der angeschuldigten Strafrichter wären ja im "Eifer des Hauptverhandlungsgefechts" noch verständlich gewesen; sie seien aber in einem Schriftsatz gemacht worden. Dort könne man von einem Richter mehr Zurückhaltung verlangen.
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[Red.]
ZAP F., S. 1092–1098