aa) Verstöße

Ein Auffahrunfall als Kerngeschehen ist als Grundlage für die Annahme eines Anscheinsbeweises dann nicht hinreichend, wenn weitere Umstände des Unfalls bekannt sind, die als Besonderheiten gegen die Typizität derartiger Fallgestaltungen sprechen. Dabei ist allein die Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufs nicht ausreichend. Der Auffahrende muss vielmehr zur Überzeugung des Gerichts Umstände nachweisen, die es ernsthaft als möglich erscheinen lassen, dass der Geschehensverlauf anders abgelaufen ist als nach der der Anscheinsregel zugrunde liegenden Erfahrungstypik. Behauptet der Auffahrende einen Fahrstreifenwechsel des Vorausfahrenden als besonderen Umstand, dann ist die Möglichkeit eines solchen nicht hinreichend (LG Berlin NZV 2019, 261 [Hanke]). Steht fest, dass es zu einer nicht näher bestimmbaren Zeit vor dem Unfall zu einem Fahrspurwechsel von der rechten auf die linke Fahrspur gekommen ist, und ist i.Ü. der Sachverhalt nicht weiter aufklärbar, so dass einerseits die Möglichkeit besteht, dass der vorausfahrende Lkw unter Verstoß gegen § 7 Abs. 5 StVO die Fahrspur gewechselt hat, andererseits aber auch die Möglichkeit, dass der Unfall auf eine verspätete Reaktion des auffahrenden Fahrers bzw. auf dessen Verstoß gegen das Abstandsgebot zurückzuführen ist, so scheidet ein Anscheinsbeweis zulasten des Auffahrenden aus (OLG Naumburg DAR 2019, 463). Bei einer beiderseitigen Fahrbahnverengung (Zeichen 120 Anl. 1 zu § 40 StVO) greift im Falle einer Kollision zweier Fahrzeuge nicht der Anscheinsbeweis des § 7 Abs. 5 StVO, da in einer solchen Verkehrssituation von einem Spurwechsel nicht die Rede sein kann. Vielmehr ist von den auf beiden Spuren fahrenden Fahrzeugführern die erforderliche Sorgfalt und Rücksicht nach § 1 Abs. 2 StVO zu erwarten (LG Hamburg NZV 2019, 209 [Bachmor]. Wer hinter einem Fahrschulfahrzeug, das als solches gekennzeichnet ist, fährt, muss seinen Abstand so wählen, dass er auch bei einem unangepassten Fahrverhalten des Fahranfängers – hier Abbremsen ohne zwingenden Grund – noch rechtzeitig anhalten kann (LG Saarbrücken NJW 2019, 173 = VRR 9/2019, 11 [Schulz-Merkel]).

An Kreuzungen und Einmündungen hat derjenige Vorfahrt, der von rechts kommt (§ 8 Abs. 1 S. 1 StVO). Erweckt der Bevorrechtigte den Eindruck, er würde nicht am fließenden Verkehr teilnehmen, weil er sich aus einer zeitlich über einen lediglich verkehrsbedingten Halt hinausgehenden Halteposition heraus wieder in den fließenden Verkehr eingeordnet hat, ist im Falle einer Kollision im Kreuzungsbereich eine hälftige Schadenteilung sachgerecht (LG Kiel NZV 2019, 370 [Bachmor]). Die Anwendbarkeit des § 9 Abs. 4 S. 1 StVO, wonach derjenige, der nach links abbiegen will, entgegenkommende Fahrzeuge, die ihrerseits nach rechts abbiegen wollen, durchfahren lassen muss, setzt einen typischen Geschehensablauf voraus. An einem solchen fehlt es, wenn im betreffenden Bereich zum einen Ampelzeichen vorgehen und zum anderen darüber hinaus eine gesonderte Lichtzeichenregelung für Linksabbieger vorhanden ist. In einer Kreuzungsräumer-Situation darf nur derjenige Verkehrsteilnehmer den Bereich bevorrechtigt räumen, von dem anderenfalls, d. h. bei Verbleiben im Kreuzungskernbereich, eine besondere Gefährdung für den übrigen Verkehr, insbesondere für den wiedereinsetzenden Querverkehr, ausgehen würde (KG NZV 2019, 310 [Bachmor]). Gegen den abbiegenden Fahrzeugführer spricht der Beweis des ersten Anscheins wegen eines Verstoßes gegen § 9 Abs. 1 S. 4 StVO, wenn im zeitlichen Zusammenhang mit dem Abbiegevorgang die Kollision mit einem überholenden Fahrzeug geschieht (LG Wuppertal VRR 5/2019, 16 [Nugel]; weiterführend Benz DAR 2019, 474). Der Anscheinsbeweis der Verletzung der aus § 9 Abs. 3 S. 2 StVO folgenden Wartepflicht des Linksabbiegers wird durch die überhöhte Geschwindigkeit des Bevorrechtigten nicht erschüttert und schränkt auch den Vorrang des entgegenkommenden Verkehrs nicht ein (KG NJW-RR 2019, 992 = NZV 2019, 425 [Lempp]; zur Rechtslage bei paarweisem parallelem Abbiegen Kuhnke NZV 2019, 223; zur vollen Haftung bei Geradeausfahren auf der Linksabbiegerspur OLG Hamm NJW-RR 2019, 990).

bb) Mitverschulden

Wie bereits das LG Frankfurt (NJW 2019, 531 = DAR 2019, 271 = zfs 2019, 81) hat auch das LG Kiel (NZV 2019, 262 [Bachmor]) entschieden: In Ermangelung einer gesetzlichen Regelung zum Tragen eines Schutzhelms ist der Schadenersatzanspruch eines Radfahrers ohne Schutzhelm, der infolge einer Vorfahrtsverletzung eines Kfz-Fahrers u.a. Kopfverletzungen erlitten hat, auch weiterhin grundsätzlich nicht wegen Mitverschuldens gem. §§ 9 StVG, 254 Abs. 1 BGB zu kürzen.

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