aa) Verstöße
Ereignet sich beim Linksabbiegen eines Pkw ein Verkehrsunfall mit einem sich auf einer bevorrechtigten Straße mit überhöhter Geschwindigkeit von links nähernden Motorrad, steht der festgestellte Geschwindigkeitsverstoß der Annahme eines gegen den Linksabbieger sprechenden Anscheinsbeweises jedenfalls dann nicht entgegen, wenn der Motorradfahrer für den Abbiegenden in der Annäherung erkennbar war (LG Saarbrücken zfs 2020, 258 = NJW-RR 2020, 2220 = NZV 2020, 430 [Ugur]). Der in dem einzigen zulässigen Linksabbiegerfahrstreifen Nachfolgende darf dem Voranfahrenden dessen Recht, zwischen mehreren markierten Fahrstreifen der Straße, in die abgebogen wird, zu wählen, nicht vorzeitig durch starkes Beschleunigen streitig machen, sondern hat abzuwarten, bis sich der Voranfahrende endgültig eingeordnet hat. Das Wahlrecht des Voranfahrenden endet erst mit seiner endgültigen Einordnung in einen Fahrstreifen, also i.d.R. frühestens 15 bis 20 m nach dem Beginn der Fahrstreifenmarkierungen (KG DAR 2020, 141 = NZV 2020, 375 [Pletter]). Auch im Baustellenverkehr gelten die beim Rückwärtsfahren zu beachtenden höchsten Sorgfaltspflichten (OLG Hamm NZV 2020, 204 [Felz]). Der Anscheinsbeweis eines Vorfahrtsverstoßes (§ 8 Abs. 2 S. 2 StVO) ist erst dann erschüttert, wenn eine Geschwindigkeit des Vorfahrtberechtigten feststeht, bei der zumindest die Möglichkeit besteht, dass er für den Wartepflichtigen im Zeitpunkt seines Anfahrentschlusses nicht erkennbar war. Der Nachweis einer solchen Geschwindigkeit obliegt dem Wartepflichtigen (LG Saarbrücken NJW 2020, 2740 Ls. = NJW-RR 2020, 912). Der Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Auffahrenden wird nicht allein dadurch erschüttert, dass der Vorausfahrende entgegen § 4 Abs. 1 S. 2 StVO ohne zwingenden Grund stark bremst (LG Saarbrücken zfs 2020, 197 = NJW-RR 2020, 158 = NZV 2020, 479 [Bachmor]).
bb) Quotenbildung und Mitverschulden
Wer eine stockende Kolonne überholen will, muss nach der Örtlichkeit sicher sein, dass kein Vorausfahrender links abbiegen will und dass eine Einscherlücke vorhanden ist (OLG Schleswig NJW-RR 2020, 800). Bildet sich auf einer Landstraße vor einer ampelgeregelten Baustelle ein kolonnenartiger Rückstau und überholt – in einer Phase, in welcher kein Gegenverkehr naht – ein Motorrad mit mäßiger Geschwindigkeit (ca. 15 km/h) diese Kolonne, trifft den Motorradfahrer auch unter Berücksichtigung der von seinem Motorrad ausgehenden Betriebsgefahr keine Mithaftung, wenn aus der Kolonne ohne jegliche Vorankündigung ein Pkw nach links ausschert, um in einen dort befindlichen Wirtschaftsweg einzubiegen, und es hierdurch zu einer Kollision mit dem Motorrad kommt (OLG Koblenz DAR 2020, 263 = NJW-RR 2020, 349 = NZV 2020, 529 [Kleine-König]). Stellt sich ein Unfallgeschehen als eine provozierte Kollision nach einer Verfolgungsjagd dar, in die der Flüchtende mit seinem Kfz getrieben wird, verwirklicht sich keine der allgemeinen Gefahren, die üblicherweise mit dem Betrieb eines Kfz zusammenhängen. Derjenige, der mit seinem Kfz bewusst ein Hindernis auf der Fahrbahn bereitstellt, um einen Auffahrunfall zu provozieren, haftet allein (OLG Celle MDR 2020, 725 = NZV 2020, 425 [Bachmor]). Die Beteiligten eines Erstunfalls, bei dem Teile vom Kfz auf die Fahrbahn gelangen, die von einem nachfolgenden Kraftfahrer überfahren werden (Zweitunfall), haften dem durch den Zweitunfall Geschädigten mit einer Gesamtquote als eine Haftungseinheit. Zu welchem Anteil im Innenverhältnis die Beteiligten des Erstunfalls den Schaden aus dem Erstunfall zu tragen haben, betrifft deren Innenverhältnis und nicht das Außenverhältnis zum Geschädigten des Zweitunfalls (OLG Hamm NJW 2020, 1006 m. Anm. Gail; zur Haftungsverteilung beim Zweitunfall OLG Celle NJW-RR 2020, 533). Hätte der Geschädigte im Falle eines angelegten Drei-Punkt-Sicherheitsgurts deutlich geringere Knieverletzungen davongetragen, kann eine Mitverschuldensquote von 30 % angemessen sein (OLG München zfs 2020, 200 m. Anm. Diehl). Einen Motorradfahrer traf im Jahr 2014 keine Obliegenheit, Schutzkleidung zu tragen. Wenn ein Motorradfahrer nur einen Motorradhelm trug, ist ihm bei der Abwägung der Schadensverursachung eines Verkehrsunfalls kein Verschulden gegen sich selbst anzulasten (OLG Düsseldorf VRS 137, 169 = NZV 2020, 260 [Hanke]).