I. Entstehung der Norm
Die Stärkung der Bedeutung des Rechtsanwaltlichen Berufsrechts ist eine schon recht alte justizpolitische Forderung aus der Anwaltschaft (v.a. DJT [2010] und DAV [2014]; vgl. Kilian ZRP 2015, 206, 207). Gesetzgeberisch gab es einen ersten Anritt 2016/17 in Gestalt des damaligen § 43e BRAO-E (BT-Drucks 18/9521), der aber recht abrupt im Unterholz einer zu Ende gehenden Legislaturperiode hängenblieb. Ähnlich überraschend tauchte die Berufsrechtskenntnispflicht jetzt in der „großen” BRAO-Reform von 2021 wieder auf (zu beiden Verfahren umfassend Kilian AnwBl. 2021, 417, 417 f.).
Hinweis:
Das Für und Wider einer solchen Regelung ist ausführlich diskutiert worden. Pragmatisch kann man dagegen einwenden, dass 150 Jahre ohne eine solche Pflicht zu keinen großen Problemen geführt hätten. Berufsrechtliche Connaisseure mögen das Wesen der Freiberuflichkeit ins Feld führen, wonach jeder für sich selbst verantwortlich sei. Solchen Feinschmeckern kann man mit Blick auf die anwaltliche Wirklichkeit insoweit Wasser in den reinen Wein schenken, als dass sich die Berufsträger der Natur ihrer Freiberuflichkeit oftmals durch eine Berufsrechtsveranstaltung überhaupt erst bewusst sein müssten. Von der Warte eines sich immer weiter diversifizierenden Berufsstands insgesamt, ist die Stärkung des Berufsrechtsbewusstseins als Klammer und Verankerung der Core Values sicherlich zu begrüßen.
II. Inhalt der Norm
Die einschlägige Regelung findet sich in der BRAO in der ab 1.8.2022 geltenden Fassung (Art. 1 Ziff. 13 G v. 7.7.2021, BGBl I S. 2363):
Zitat
§ 43f BRAO: Kenntnisse im Berufsrecht:
(1) Der Rechtsanwalt hat innerhalb des ersten Jahres nach seiner erstmaligen Zulassung zur Rechtsanwaltschaft an einer Lehrveranstaltung über das rechtsanwaltliche Berufsrecht teilzunehmen. Die Lehrveranstaltung muss mindestens zehn Zeitstunden dauern und die wesentlichen Bereiche des anwaltlichen Berufsrechts umfassen.
(2) Die Pflicht nach Absatz 1 Satz 1 besteht nicht, wenn der Rechtsanwalt vor dem 1.8.2022 erstmalig zugelassen wurde oder wenn er nachweist, dass er innerhalb von sieben Jahren vor seiner erstmaligen Zulassung zur Rechtsanwaltschaft an einer Lehrveranstaltung nach Absatz 1 teilgenommen hat.
Einzelheiten sind dann der Satzungsversammlung überwiesen (§ 59a Abs. 2 Nr. 1 lit. f BRAO).
Zitat
§ 59a Abs. 2 BRAO: Satzungskompetenz:
Die Berufsordnung kann im Rahmen der Vorschriften dieses Gesetzes näher regeln: 1. die allgemeinen Berufspflichten und Grundpflichten: [...] h) Kenntnisse im Berufsrecht [...].
III. Zweck der Norm
Hintergrund der Regelung ist laut der Gesetzesbegründung (BT-Drucks 19/30516, S. 44 f.) der (mittelbare) Schutz der Rechtssuchenden vor berufsrechtswidriger Berufsausübung und damit die Sicherung der Qualität anwaltlicher Rechtsdienstleistungen, zudem der Schutz der Rechtspflege insgesamt.
Nicht ausdrücklich in den Gesetzgebungsmaterialien angesprochen ist ein Schutz der Freiberuflichkeit. Nun klingt es auf den ersten Blick widersprüchlich, die Freiberuflichkeit durch eine obrigkeitliche Vorgabe, zudem noch in der der Berufsausübung eigentlich vorgelagerten Ausbildungsphase zu schützen. Allerdings ist der Kern der Freiberuflichkeit jedoch nicht die Freiheit von staatlicher Aufsicht und Kontrolle, sondern die Eigenverantwortlichkeit der Berufsträger. Und diese setzt voraus, dass die Inhalte des Berufsrechts, die Rechte und Pflichten, innerhalb des Berufsstands allgemein bekannt sind. In einer in vielerlei Hinsicht diverser und bunter werdenden Anwaltschaft in einer zunehmend liberalisierten Rechtdienstleistungslandschaft ist deshalb die Stärkung des Berufsbewusstseins (u.a.) durch die Klammer des gemeinsamen Berufsrechts eine denkbare und insoweit sinnvolle Maßnahme (s.o. I.).
Die Pflicht zu Berufsrechtsveranstaltungen und damit indirekt zu Berufsrechtskenntnissen führt jedenfalls zu einer Konvergenz mit entsprechenden Pflichten in den Berufsrechten verwandter Berufe (Patentanwälte, § 40 Abs. 2 Nr. 7 PatAnwAPrV; Steuerberater, § 37 Abs. 3 Nr. 8 StBerG; Wirtschaftsprüfer, § 4 Abs. 1 S. 1 WiPrPrüfV) und auch mit ausländischen, hier tätigen Kollegen (vgl. § 20 Abs. 1 S. 1 EuRAG: „Recht für das berufliche Verhalten der Rechtsanwälte”), was besonders kurios ist, weil – soweit ersichtlich – im europäischen Ausland Berufsrechtskenntnisse überall gefordert waren und sind (ausdr. Kilian ZRP 2015, 206, 207).
IV. Systematik der Norm
Systematisch hätte die Berufsrechtskenntnispflicht eigentlich besser in das DRiG gepasst, etwa in dessen § 5b oder § 5a. Weil aber am Ausbildungsziel des Einheits- und Allgemeinjuristen festgehalten werden sollte (und man nicht noch zur Ausbalancierung das Richterdienstrecht in den Ausbildungsstoff aufnehmen wollte), verfiel man auf den Kniff, in der BRAO einen Ausbildungsgegenstand als eine materielle Berufspflicht zum Nachweis einer entsprechenden Lehrveranstaltung zu formulieren. Da die nachzuweisende Ausbildung notwendigerweise vor der Zulassung liegen muss, haben wir hier eine (kompetenzrechtlich grenzwertige) anwaltsrechtliche Vorwirkung in das Juristenausbildungsrecht. Dami...