Hilfe zum Lebensunterhalt nach den §§ 27 ff. SGB XII erhalten nur bedürftige Leistungsberechtigte, also wer den notwendigen Lebensunterhalt nicht mit eigenem Einkommen und Vermögen decken kann. Zum anzurechnenden Einkommen gehören nicht nur tatsächliche finanzielle Zuflüsse, sondern auch Ansprüche, wenn mit ihrer Erfüllung alsbald zu rechnen ist.
Hinweise:
Das BVerwG hatte bereits zu § 8 der Reichsgrundsätze über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge entschieden, dass nur realisierbare Ansprüche angerechnet werden (BVerwG, Urt. v. 3.4.1957 – 5 C 94.56, 5 C 152.54, BVerwGE 5, 27, 30). Diese Rechtsprechung hat es in den Entscheidungen zum Bundessozialhilfegesetz fortgeführt. Ansprüche dürfen nur angerechnet werden, wenn mit ihnen der Bedarf tatsächlich wirtschaftlich gedeckt wird (vgl. Decker in Oesterreicher/Decker, SGB II/SGB XII, Loseblattkommentar, § 82 SGB XII, Rn 39). Das BSG hat sich dieser Rechtsprechung ausdrücklich angeschlossen (BSG v. 8.2.2007 – B 8/9b SO 5/06 R). In diesem Zusammenhang ist der Begriff „bereite Mittel” üblich. Handelt es sich nicht um solche, ist seitens des Sozialhilfeträgers zu prüfen, ob der Anspruch nach § 94 SGB XII auf ihn übergegangen ist oder ob er ihn nach § 93 SGB XII auf sich überleiten kann.
Auch in der Grundsicherung für Arbeitsuchende werden nur bereite Mittel als Einkommen angerechnet (s. etwa BSG v. 24.6.2020 – B 4 AS 9/20 R Rn 27 ff.).
In dem hier zu besprechenden Fall war zu entscheiden, ob Leistungsansprüche gegen andere Leistungsträger – hier Wohngeld – auf die Sozialhilfeleistung anzurechnen sind, wenn die leistungsberechtigte Person diese Leistung nicht beantragt und nachdem der Sozialhilfeträger diese selbst beantragt hat, im Verfahren des für die andere Leistung zuständigen Leistungsträger nicht mitwirkt. Das SGB XII enthält keine ausdrückliche Aussage hierzu. Der Sozialhilfeträger griff deshalb auf § 2 Abs. 1 SGB XII zurück. Nach dieser Vorschrift „erhält Sozialhilfe nicht, wer sich vor allem durch Einsatz seiner Arbeitskraft, seines Einkommens und seines Vermögens selbst helfen kann oder wer die erforderliche Leistung von anderen, insbesondere von Angehörigen oder Trägern anderer Sozialleistungen, erhält”. Bislang hat das BSG in ständiger Rechtsprechung einen Ausschluss von Leistungen der Sozialhilfe durch § 2 Abs. 1 SGB XII grds. verneint, weil es sich bei diesem nur um einen Programmsatz handele. Die Strukturprinzipien der Sozialhilfe hätten keine eigenständige Bedeutung. Allerdings ließ es bislang offen, ob in extremen Ausnahmefällen etwas anderes gilt. Dies scheidet nun nach seinem Urt. v. 23.3.2021 – B 8 SO 2/20 R aus (s. hierzu auch Sieper, jurisPR-SozR 17/2021 Anm. 5).
Der Kläger bezog ab März 2016 Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII. Er beantragte im Juli 2016 auf Aufforderung des Beklagten hin Wohngeld. Nach Bewilligung des Wohngeldes wurde der Sozialhilfebewilligungsbescheid aufgehoben, weil der Kläger nicht mehr bedürftig war. Nach Auslaufen des Wohngeldbewilligungszeitraums Ende 2017 stellte der Kläger keinen Antrag auf Weiterbewilligung des Wohngeldes. Er beantragte beim Beklagten Hilfe zum Lebensunterhalt, weil er bei dieser mit dem „Berlin-Pass” weitere Vergünstigungen erhielt (u.a. im öffentlichen Personennahverkehr). Der Beklagte lehnte die Bewilligung der Hilfe zum Lebensunterhalt unter Hinweis auf den Nachranggrundsatz ab. Er beantragte selbst das Wohngeld. Das Wohngeld wurde aber wegen mangelnder Mitwirkung des Klägers versagt. Die Klage vor dem SG war erfolgreich. Hiergegen richtete sich die Sprungrevision des Beklagten. Er rügt mit dieser eine Verletzung von § 2 Abs. 2 SGB XII.
Das BSG entschied, dass das Wohngeld nicht angerechnet werden darf. Neu an der Entscheidung war insb., dass es nun in § 2 Abs. 1 SGB XII generell keine Norm sieht, die die Gewährung der Sozialhilfe ausschließt, wenn vorrangige Leistungen nicht beantragt werden. In seiner Begründung verweist es auf § 24 Abs. 2 SGB XII, nach dem Leistungen für Deutsche im Ausland auch dann ausgeschlossen sind, wenn Leistungen von anderen „zu erwarten” sind. Demgegenüber stelle § 2 Abs. 1 SGB XII darauf ab, dass die antragstellende Person die Leistung von anderen „erhält”. Für eine Differenzierung zwischen „klaren Fällen”, in denen die Leistung zu versagen ist, wenn die Ansprüche gegen Dritte nicht geltend gemacht werden, und Fällen, in denen der Leistungsträger nach § 95 SGB XII selbst die anzurechnende Leistung beantragen muss, lasse sich § 2 Abs. 1 SGB XII nicht entnehmen.
Hinweise:
Eine § 95 SGB XII entsprechende Vorschrift enthält § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II. Anders als in § 95 SGB XII wird in § 5 Abs. 3 SGB XII bestimmt, wie zu verfahren ist, wenn die nach dieser Vorschrift beantragte Leistung versagt oder entzogen wurde, weil die leistungsberechtigte Person nicht mitwirkte. Dann ist die Leistung zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II so lange ganz oder teilweise zu entziehen, bis die leistungsberechtigte Person im Verfahren des anderen Leistungsträgers...