Es liegt keine Vorfahrtverletzung mehr vor, wenn der Vorfahrtberechtigte einen Spurwechsel auf einer in eine Richtung mit mehreren Fahrspuren ausgestatteten Vorfahrtstraße vornimmt, sich das wartepflichtige Fahrzeug schon vollständig fahrbahnparallel eingeordnet hat und der Unfall noch in einem Korridor von 30 m nach dem Kreuzungsbereich stattfindet. Kommen ein Einfahren aus einer untergeordneten Straße und ein Fahrstreifenwechsel auf der Vorfahrtstraße zusammen, ist auf die konkreten Umstände des Einzelfalls abzustellen. Da insoweit keine typischen Abläufe vorliegen, greift in keiner Richtung ein Anscheinsbeweis (OLG München NJW-RR 2020, 1233 = NZV 2021, 266 m. Anm. Bachmor). Wartepflichtige dürfen nicht allein im Vertrauen auf den gesetzten rechten Fahrtrichtungsanzeiger eines anderen Fahrzeugs in eine Kreuzung einfahren, wenn eine unverändert geradeaus erfolgende Weiterfahrt dieses Vorfahrtsberechtigten nicht auszuschließen ist. Jeder Verkehrsteilnehmer muss grds. mit einem versehentlich gesetzten Fahrtrichtungsanzeiger eines bevorrechtigten Fahrzeugführers rechnen. Beschränken sich die zu berücksichtigenden Verursachungsbeiträge bei einem Kreuzungsunfall auf eine Vorfahrtsverletzung einerseits und einen fehlerhaft gesetzten Fahrtrichtungsanzeiger andererseits, ist eine Haftungsquote von 70 % zu 30 % zu Lasten des Wartepflichtigen wegen überwiegenden Verschuldens gerechtfertigt (OLG Karlsruhe VRS 139, 237 = NZV 2021, 325 m. Anm. Hanke).
Die erste sich bietende Möglichkeit für ein Überholmanöver nach einer längeren Zeit und mehreren Kilometern in einer Kolonnensituation kann eine unklare Verkehrslage (§ 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO) begründen, insb., wenn damit gerechnet werden muss, dass auch andere (vorausfahrende) Fahrzeuge in der Kolonne diese Möglichkeit nutzen, um ein am Kopf der Kolone langsam fahrendes Fahrzeug zu überholen (OLG Koblenz NZV 2021, 216 mit Anm. Kleine-König). Kollidieren zwei Kfz in unmittelbarem zeitlichen und örtlichen Zusammenhang bei einem Fahrstreifenwechsel, so spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der den Fahrstreifenwechsel beginnende Verkehrsteilnehmer den Unfall unter Verstoß gegen die sich aus § 7 Abs. 5 StVO ergebenden Pflichten verursacht und verschuldet hat, ohne dass es darauf ankommt, ob er den Fahrstreifenwechsel bereits vollständig vollzogen hat (KG MDR 2021, 677 = NZV 2021, 475 m. Anm. Kleine-König). Nach einem Fahrspurwechsel, der den Anscheinsbeweis grds. erschüttert, kann die für diese Beweiserleichterung notwendige Typizität erst wieder angenommen werden, wenn beide Fahrzeuge so lange in einer Spur hintereinander hergefahren sind, dass sich beide Fahrzeugführer auf die vorangegangenen Fahrzeugbewegungen einstellen konnten. Ist es gleichermaßen möglich, dass der sich nach dem äußeren Bild bietende Auffahrunfall durch einen zu geringen Abstand des Hintermannes oder aber einen unmittelbar zuvor durchgeführten, als solchen unstreitigen Fahrspurwechsel des Vorausfahrenden ereignet hat, ist eine hälftige Schadenteilung sachgerecht (OLG Frankfurt NZV 2021, 371 m. Anm. Bachmor). Bei Unaufklärbarkeit des Unfallgeschehens hinsichtlich einer bestimmten Tatsache kann dies bei § 17 Abs. 2 StVG und § 17 Abs. 3 StVG sowie innerhalb von § 17 Abs. 2 StVG zu wechselnden Beweislastentscheidungen führen, so bzgl. der streitigen Tatsache des rechtzeitigen Setzens des Fahrtrichtungsanzeigers beim Abbiegen aus der linken von zwei Fahrspuren in ein Grundstück (OLG Hamm NZV 2021, 428 m. Anm. Syrbe).
Die Betriebsgefahr des Fahrzeugs des Auffahrenden kann bei einem besonders gefährlichen Fahrmanöver des Vorausfahrenden vollständig hinter dessen Verursachungs- und Verschuldensbeiträgen sowie der Betriebsgefahr seines Fahrzeugs zurücktreten, so beim Abbiegen aus der linken von zwei Fahrspuren in ein Grundstück (OLG Hamm NZV 2021, 428 m. Anm. Syrbe). Fährt bei einem Kettenunfall zuerst das hintere Fahrzeug auf das mittlere auf, steht aber nicht fest, dass das mittlere Fahrzeug ohne diesen Anstoß ein Auffahren auf das vordere Fahrzeug hätte verhindern können, haften die für das hintere Fahrzeug Verantwortlichen nur für die Heckschäden des mittleren Fahrzeugs (OLG Koblenz NJW-RR 2021, 280 = NZV 2021, 265 m. Anm. Fahl). Fährt ein Lkw aufgrund zu geringen Abstandes auf einen Pkw auf, welcher aufgrund eines fehlerhaften Bremsassistenzsystems plötzlich und grundlos abgebremst hat, bedarf es keines Rückgriffs mehr auf den gegen den Auffahrenden sprechenden Anscheinsbeweis und ist eine Haftungsquote von 2/3 zu 1/3 zu Lasten des Lkw angezeigt (OLG Frankfurt NJW-RR 2021, 753 = NZV 2021, 429 m. Anm. Steege).
Ist aufgrund der konkreten Umstände an der Unfallörtlichkeit (erheblich verengte Fahrbahn, unübersichtliche Stelle, schlechte Sichtverhältnisse) die Wahrnehmbarkeit des im absoluten Halteverbot parkenden Kfz beeinträchtigt, sodass es ein unfallkausales Hindernis für den fließenden Verkehr darstellt, kann eine Mithaftung in Höhe der einfachen Betriebsgefahr in Betracht kommen (LG Hamburg NZV 2021...