Wer die Vorfahrt zu beachten hat, muss rechtzeitig durch sein Fahrverhalten erkennen lassen, dass gewartet wird. Es darf nur weitergefahren werden, wenn übersehen werden kann, dass der Bevorrechtigte weder gefährdet noch wesentlich behindert wird. Biegt ein aus einer untergeordneten Straße kommendes Fahrzeug nach links auf eine Vorfahrtstraße ein und muss der dort aus seiner Sicht von rechts kommende Verkehrsteilnehmer deswegen ein Bremsmanöver einleiten und zusätzlich zur Vermeidung eines Zusammenstoßes auf die Gegenfahrbahn ausweichen, wo er letztlich mit einem dort fahrenden Fahrzeug kollidiert, steht dieser Unfall in einem engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit der Vorfahrtverletzung des Wartepflichtigen (LG Itzehoe NZV 2022, 201 [Bachmor]). Die Verpflichtung zum Einrichten einer Rettungsgasse für einen Streifenwagen besteht nur auf Autobahnen, nicht aber im innerstädtischen Verkehr. Dort gelten je nach Einzelfallsituation andere Maßstäbe (LG Hamburg DAR 2022, 390 m. Anm. König = NZV 2022, 395 [Bachmor]).
Zur Gefährdung „anderer Verkehrsteilnehmer” beim Fahrstreifenwechsel hat sich der BGH geäußert (NJW 2022, 1810 m. Anm. Almeroth = DAR 2022, 328): Im Rahmen des § 7 Abs. 5 S. 1 StVO ist „anderer Verkehrsteilnehmer” nur ein Teilnehmer des fließenden Verkehrs, also nicht der vom Fahrbahnrand An- und in den fließenden Verkehr Einfahrende.
Wer nach links abbiegen will, muss entgegenkommende Fahrzeuge, die ihrerseits nach rechts abbiegen wollen, gem. § 9 Abs. 4 StVO durchfahren lassen. Ist die Straße, in die abgebogen werden soll, zweispurig, hat der bevorrechtigte Rechtsabbieger grds. ein Wahlrecht des Fahrstreifens. Sind beide abgehenden Spuren durch eine ununterbrochene Leitlinie voneinander getrennt und zudem mit Richtungspfeilen versehen, ändert dies nichts am Vorrang des Rechtsabbiegers. Insbesondere liegt kein Verstoß gegen § 7 Abs. 5 StVO (Spurwechsel) vor, wenn er die Leitlinien bei der Ausübung seines Vorfahrtrechts überfahren muss (LG Hamburg NZV 2022, 250 [Bachmor]). Biegen an einer ampelgesteuerten mehrspurigen Kreuzung sich entgegenkommende Fahrzeuge jeweils in die gleiche dreispurige Straße ab, wobei der Linksabbieger die linke der drei Fahrspuren ansteuert, während der zeitgleich abbiegende Rechtsabbieger ebenfalls diese linke Fahrspur (also aus seiner Fahrtrichtung die dritte Spur) ansteuert, muss auch der grds. vorfahrtsberechtigte Rechtsabbieger wegen dieses mehrfachen Spurwechsels nach dem allgemeinen Rücksichtnahmegebot des § 1 Abs. 2 StVO darauf achten, ob die angesteuerte Fahrspur überhaupt frei ist (OLG Koblenz NZV 2022, 436 [Exter])
Kommt ein Pkw nach Abbruch eines Überholversuchs für ein Abschleppgespann im endenden linken Fahrstreifen einer Straße zum Stehen und kommt es zur Kollision, weil der abgeschleppte Lkw, der lediglich auf der Vorderachse rollt, in den linken Fahrstreifen gelangt, steht dem geschädigten Pkw-Halter wegen eines anzurechnenden Mitverschuldens des Fahrers seines Pkw ein Schadensersatzanspruch (nur) zur Hälfte zu (KG NJW-RR 2022, 679 = NZV 2022, 294 [Syrbe]). Wer ordnungsgemäß zum Überholen einer Kolonne angesetzt hat, hat gegenüber ausscherenden Fahrzeugen aus der Kolonne Vorrang, auch wenn im weiteren Verlauf die Absicht, links abzubiegen, erkennbar wird. Das Überholen einer großen Kolonne von 9–10 Fahrzeugen, ohne dass eine unklare Verkehrslage vorliegt, ist grds. erlaubt und führt nicht zu einem Mitverschulden. Gegebenenfalls kommt jedoch eine erhöhte Betriebsgefahr zum Ansatz (OLG Celle zfs 2022, 442).
Bei einer beidseitigen Fahrbahnverengung (Gefahrenzeichen 120 nach Anl. 1 zu § 40 Abs. 6 und 7 StVO) gilt das Gebot der wechselseitigen Rücksichtnahme (§ 1 StVO). Ein regelhafter Vorrang eines der beiden bisherigen Fahrstreifen besteht nicht (BGH NJW 2022, 2279 = DAR 2022, 503 = VRR 6/2022, 11 [Burhoff]). Wird zur Verkehrsberuhigung im Hinblick auf eine unfallträchtige Kreuzung eine Bodenwelle (sleeping policeman) errichtet, endet eine ihretwegen angeordnete streckenbezogene Geschwindigkeitsbegrenzung, deren Länge nicht ausdrücklich vorgegeben wird, nach lfd. Nr. 55 S. 2 Anl. 2 zu § 41 Abs. 1 StVO dort, wo die Gefahr auch aus Sicht eines Ortsunkundigen vorüber ist, hier aus Fahrtrichtung jeweils hinter der Bodenwelle und der gefährlichen Kreuzung, wenn keine weiteren Bodenwellen mehr angezeigt oder ersichtlich sind (KG MDR 2021, 1193 = NZV 2022, 295 [Hanke]).
Das OLG Hamm (zfs 2022, 250) hält an seiner Auffassung, wonach im Falle der Kollision auch dann der Anschein für ein Verschulden des Zurücksetzenden spricht, wenn der Zurücksetzende zum Kollisionszeitpunkt bereits zum Stehen gekommen ist, gleichwohl aber ein enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang mit dem Zurücksetzen gegeben ist, seit der Entscheidung des BGH (NJW 2016, 1098) nicht länger fest.
Auf einem Tankstellengelände, das eine einem Parkplatz vergleichbare Verkehrsfläche darstellt, gilt das Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme. Ähnlich wie bei der Suche nach einem Stellplatz, ist auch au...