aa) Verstöße
Das Überholen eines vorausfahrenden Fahrzeugs ist unzulässig, wenn eine unklare Verkehrslage vorliegt. Das ist der Fall, wenn die Verkehrslage unübersichtlich bzw. ihre Entwicklung nach objektiven Umständen nicht zu beurteilen ist. Allein der Umstand, dass das vorausfahrende Fahrzeug seine Geschwindigkeit verringert und sich etwas zur Fahrbahnmitte einordnet, begründet noch keine unklare Verkehrslage (OLG Hamm NZV 2023, 230 [Syrbe]). Die Behauptung eines Rechtsüberholvorgangs, der zu einem Auffahrunfall geführt haben soll, kann im Einzelfall auch bei offenem technischem Sachverständigengutachten durch die Angaben der vermeintlichen Rechtsüberholerin und ihres Ehemanns widerlegt werden (OLG Hamm VRS 142, 316 = NZV 2023, 181 [Hanke]). Beim Vorbeifahren an Müllfahrzeugen im Einsatz muss nicht stets oder i.d.R. Schrittgeschwindigkeit oder ein Sicherheitsabstand von 2 m eingehalten werden; maßgeblich sind vielmehr die jeweiligen Umstände des Einzelfalls. Die Reduzierung der Geschwindigkeit auf 13 km/h kann ausreichend sein. Die Privilegierung des § 35 Abs. 6 StVO begründet keine Befreiung vom allgemeinen Rücksichtnahmegebot des § 1 StVO. Ein Müllwerker, der auf der Fahrbahn einen großen, schweren Müllrollcontainer hinter dem Müllfahrzeug hervorschiebt, ohne auf den Verkehr zu achten, verstößt gegen § 1 Abs. 2 StVO (OLG Celle MDR 2023, 697 = VRR 6/2023, 14 [Deutscher] = NZV 2023, 421 [Bachmor]).
Ein Anscheinsbeweis zulasten des Linksabbiegers kann ausscheiden, wenn der Linksabbieger einen Vorfahrtsverzicht nach § 11 Abs. 3 Hs. 2 StVO darlegt und beweist. An das Vorliegen eines Vorfahrtsverzichts sind strenge Anforderungen dahin zu stellen, dass der Vorfahrtsberechtigte den Verzichtswillen in unmissverständlicher Weise zum Ausdruck bringen muss. Es genügt nicht, dass nur eine starke Verlangsamung des vorfahrtsberechtigten Fahrzeugs und die Betätigung dessen Lichthupe, vorgetragen wird (OLG Hamm NZV 2023, 182 [Biller-Bomhardt]).
Die Vorfahrtsregel des § 8 Abs. 1 S. 1 StVO („rechts vor links”) findet auf öffentlichen Parkplätzen ohne ausdrückliche Vorfahrtsregelung weder unmittelbar noch i.R.d. Pflichtenkonkretisierung nach § 1 Abs. 2 StVO Anwendung, soweit den dort vorhandenen Fahrspuren kein eindeutiger Straßencharakter zukommt (BGH NJW 2023, 1123 = DAR 2023, 137 m. Anm. Freymann = zfs 2023, 194 = VRR 4/2023, 13 [Burhoff] = NZV 2023, 275 [Daßbach]).
bb) Quotenbildung und Mitverschulden
Eine deutlich über der Richtgeschwindigkeit auf Autobahnen von 130 km/h liegende Ausgangsgeschwindigkeit ist bei der Haftungsabwägung als betriebsgefahrerhöhend zu berücksichtigen. Bei einer Überschreitung um 30 km/h tritt die Betriebsgefahr im Regelfall nicht mehr zurück. Eine Überschreitung der Richtgeschwindigkeit um ca. 70 km/h kann eine Mithaftung von 25 % rechtfertigen (OLG Schleswig NJW-RR 2023, 247 = NZV 2023, 280 [Krenberger]). Allein der Umstand, dass die Geschwindigkeitsüberschreitung bei der Beurteilung der Haftung für die Erstkollision – als hierfür nicht mitursächlich – außer Betracht bleiben muss, bedeutet nicht, dass sie für die Zweitkollision nicht nach den allgemeinen Grundsätzen der Haftungsverteilung zu berücksichtigen ist (OLG Schleswig NJW 2023, 2734). Der Verkehrsregelung durch eine Lichtzeichenanlage an einer Kreuzung oder Einmündung kommt eine so erhebliche Bedeutung zu, dass die Betriebsgefahr sowie im Einzelfall auch ein geringfügiges Verschulden des bei Grünlicht in den geschützten Kreuzungs-/Einmündungsbereich Einfahrenden hinter den Rotlichtverstoß des Unfallgegners zurücktritt (OLG Saarbrücken NJW-RR 2023, 1069). Eisenbahn- und Eisenbahninfrastrukturunternehmen bilden grds. eine Haftungs- und Zurechnungseinheit. Es führt zu einer Erhöhung der Betriebsgefahr seitens dieser Haftungs- und Zurechnungseinheit, wenn das bestehende Sicherungssystem der Fernüberwachung nicht dahingehend ausgelegt ist, den einfahrenden Triebfahrzeugführer direkt vor einem Hindernis auf dem Bahnübergang zu warnen, sondern wenn ihn diese Warnung aufgrund der bestehenden Informationskette i.d.R. zu spät erreicht. Es ist nicht grds. davon auszugehen, dass ein Fahrer, der auf einem gesicherten Bahnübergang mit einer Eisenbahn zusammenstößt, grob fahrlässig gehandelt hat (OLG Celle VRR 8/2023, 17 [Deutscher]).