In dem Urt. v. 16.12.2021 (1 C 60.20, InfAuslR 2022, 264 ff.) beschäftigt sich das BVerwG schwerpunktmäßig mit den Anforderungen an eine rechtmäßige Ermessensentscheidung der Verlustfeststellung nach § 6 i.V.m. § 12a FreizügG/EU. Letztere Vorschrift bestimmt – nunmehr ausdrücklich (vgl. zur entsprechenden Anwendung der Richtlinie 2004/38/EG auf diese Fallkonstellation bereits EuGH, Urt. v. 14.11.2017 – C-165/16, ZAP EN-Nr. 737/2017 = NVwZ 2018, 137 ff.) –, dass die nach diesem Gesetz für Familienangehörige und für nahestehende Personen von Unionsbürgern geltenden Regelungen auf Familienangehörige und nahestehende Personen von Deutschen, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit nach Art. 21 AEUV nachhaltig Gebrauch gemacht haben, entsprechende Anwendung finden.
Nach § 6 Abs. 1 S. 1 FreizügG/EU kann der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU unbeschadet des § 2 Abs. 7 und des § 5 Abs. 4 FreizügG/EU nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit (Art. 45 Abs. 3, Art. 52 Abs. 1 AEUV) festgestellt und die Bescheinigung über das Daueraufenthaltsrecht oder die Aufenthaltskarte oder Daueraufenthaltskarte eingezogen werden. Anders als die – strukturell vergleichbare – Ausweisung steht die Verlustfeststellung im pflichtgemäßen behördlichen Ermessen („kann”). Dem steht nach Auffassung des BVerwG der Vorrang des Unionsrechts nicht entgegen; die – zwingend vorgegebene – Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (Art. 27 Abs. 2 RL 2004/38/EG) sei auch bei einer Ermessensentscheidung sichergestellt und insoweit gerichtlich voll überprüfbar. Eine rechtmäßige Ermessensentscheidung setze i.d.R. allerdings auch voraus, dass die Behörde den entscheidungserheblichen und für eine sachgemäße Wahrnehmung der Letztverantwortlichkeit maßgeblichen Sachverhalt zutreffend und vollständig ermittelt und in ihre Erwägungen eingestellt habe. Da für die gerichtliche Überprüfung der Entscheidung über die Verlustfeststellung auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen sei, treffe die Ausländerbehörde auch während des gerichtlichen Verfahrens eine Pflicht zur ständigen verfahrensbegleitenden Kontrolle der Rechtmäßigkeit ihrer Verlustfeststellungsentscheidung und ggf. zur Ergänzung ihrer Ermessenserwägungen.
Neben den in § 6 Abs. 3 FreizügG/EU, der Art. 28 Abs. 1 RL 2004/38/EG nahezu wortgleich umsetzt, ausdrücklich erwähnten Gesichtspunkten – Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsland – seien bei der Ermessensentscheidung über eine Verlustfeststellung im Grundsatz auch Nachteile zu berücksichtigen, die den Ausländer im Herkunftsland erwarteten. Dies gelte uneingeschränkt für solche Nachteile, die das Gewicht eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nicht erreichten, aber gleichwohl so erheblich seien, dass sie sich auf die durch Art. 7 GRC und Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Belange des Ausländers auswirken könnten. Gefahren, die so schwerwiegend seien, dass sie die Voraussetzungen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots begründeten, seien bei der Ermessensentscheidung nach § 6 FreizügG/EU jedenfalls dann nicht zu berücksichtigen, wenn für diese eine ausschließliche Prüfungszuständigkeit des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) bestehe. Dies gelte insb. für zielstaatsbezogene Gefahren, die ihrer Art nach objektiv geeignet seien, eine Anerkennung als Asylberechtigter (Art. 16a Abs. 1 GG) oder Flüchtling (§ 3 AsylG) oder die Zuerkennung subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) zu begründen. Denn ein Ausländer sei mit einem materiellen Asylbegehren, das nach § 13 AsylG auch das Begehren auf subsidiären Schutz umfasse, hinsichtlich aller zielstaatsbezogener Schutzersuchen und Schutzformen auf das Asylverfahren vor dem Bundesamt zu verweisen; er habe kein Wahlrecht zwischen einer Prüfung durch die Ausländerbehörde und einer Prüfung durch das Bundesamt. Dabei ist die Ausländerbehörde gem. § 6 S. 1 und § 42 S. 1 AsylG an die in einem Asylverfahren (zuletzt) getroffene Entscheidung des Bundesamts oder des Verwaltungsgerichts gebunden. Auch bei nachträglicher erheblicher Änderung der Sachlage sei ausschließlich das Bundesamt zur Korrektur seiner einmal getroffenen Feststellungen befugt, und zwar unabhängig von dem Zeitraum, der seit der Erstentscheidung des Bundesamts verstrichen sei.
Das BVerwG weist ferner darauf hin, dass die Ausländerbehörde auch nicht verpflichtet sei, das Ausweisungsverfahren auszusetzen, bis das Bundesamt eine aktuelle Entscheidung über einen Asylfolgeantrag oder ein Folgeschutzgesuch getroffen habe; sie dürfe ihre Entscheidung vielmehr (zunächst) auf der unterstellten, nicht notwendigerweise weiterhin zutreffenden tatsächlichen Grundlage treffen, dass kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot vorliege. Werde ...