Wenigstens kurz ist abschließend auch auf damit aufgeworfene Fragen einer anwaltlichen Haftung für Beratungsfehler hinzuweisen: Das „Leitsatzentscheidungsverfahren” ist geeignet, zahlreiche neue Fälle der Anwaltshaftung aufzuwerfen, soweit die Partei aufgrund eines BGH-Leitsatzbeschlusses erst darauf hingewiesen wird, Schadensersatzansprüche gegen ihren Prozessbevollmächtigten geltend zu machen. Hier lassen sich verschiedene Fallkonstellationen bereits prognostizieren: Denkbar ist dies v.a. dann, wenn der Rechtsanwalt der Partei zu einer Revisionsrücknahme geraten hat und diese Partei später durch den BGH-Leitsatzentscheidungsbeschluss erfährt, dass sie mit dem Rechtsmittel letztinstanzlich obsiegt hätte (was zugleich auch die Frage der haftungsbegründenden Kausalität des Beratungsfehlers beantwortet). Entsprechendes gilt für den Fall eines (hypothetischen) teilweisen Obsiegens. Aber auch der umgekehrte Fall ist erfahrungsgemäß naheliegend, wenn die Partei erst via „Leitsatzentscheidungsbeschluss” erfährt, dass die Revision erfolglos geblieben wäre, daraus aber den Haftungsvorwurf ableitet, dass ihr Prozessbevollmächtigter überhaupt nicht zur Einlegung der Revision bzw. zu einer Nichtzulassungsbeschwerde (§ 544 ZPO) hätte raten dürfen – oder zu einem gerichtlichen Vorgehen insgesamt. Alles dies ist geeignet, zusätzliche Fragen von Anlass und Reichweite anwaltlicher Haftung, haftungsbegründender Kausalität und damit einhergehenden gerichtlichen Prognosen aufzuwerfen, die jedoch sämtlich im RegE nicht aufscheinen, geschweige denn geklärt werden. Dieser Umstand i.V.m. der Begründung des Gesetzesvorhabens (dem aktuellen Massenphänomen von „Dieselklagen” – und einer daraus erwachsenden „Klagen- und Rechtsmittelflut” – von der v.a. die Instanzgerichte betroffen sind, der BGH dagegen geringer) lässt das legislatorische Vorhaben eines „Leitsatzentscheidungsverfahrens” als Einzelfall- und Maßnahmegesetz erscheinen. Die Revision wäre dann letztlich auch nicht mehr länger ein Parteirechtsmittel des Zivilprozesses. Ein solcher Bruch mit tragenden Grundsätzen der ZPO kann auch kaum überzeugend mit den Interessen anderer Parteien oder der Allgemeinheit bzw. der Instanzgerichte begründet werden: Denn weder für Dritte, noch für die Allgemeinheit und erst recht nicht für die Instanzgerichte tragen die Prozessparteien Verantwortung. Etwas anderes folgt auch nicht aus den Zugangsvoraussetzungen für die Revisionsinstanz gem. § 543 Abs. 2 ZPO (vgl. zur Revision als Parteirechtsmittel auch nach dem ZPO-RG bereits näher und m.w.N. N. Fischer, Zivilverfahrens- und Verfassungsrecht, 2002, S. 40 ff.). Folglich würde das „Leitsatzentscheidungs”-Verfahren ein gänzlich neues prozessuales Konstrukt darstellen, das ohne ausreichend rechtfertigenden Grund nicht nur in die Dispositionsmaxime der Parteien eingreift. Weniger und besser durchdachte Gesetze, gerade soweit die ZPO betreffend, sind jedoch auch im Jahr 2023 das (rechtspolitische) Gebot der Stunde, wie dies ein früherer ZAP-Mitherausgeber – Peter Gilles – für Verfahrensrechtsreformen immer wieder grds. eingefordert hat (vgl. dazu N. Fischer in: Paris Arvanitakis (Hg.), Prozeßrechtsvergleichung und prozessuale Vereinheitlichung – Studia in Memoriam Peter Gilles, 2021, S. 127, 150). Abzuwarten bleibt, ob der (überfällige) „Aufschrei” gerade der anwaltlichen Praxis doch noch erfolgt (und Gehör findet). Die Hoffnung richtet sich daher jetzt auf den Deutschen Bundestag – und den dort vorhandenen juristischen Sachverstand.
ZAP F. 13, S. 1003–1012
Von Prof. Dr. Nikolaj Fischer, Universität Kassel