Mit Kammerbeschluss v. 21.3.2023 – 1 BvR 1620/22 (NJW 2023,1876, hierzu Plagemann FD-SozVR 2023, 457749) hat das BVerfG einer Verfassungsbeschwerde stattgegeben, die ein verwaltungsgerichtliches Verfahren um Ablehnung von Leistungen nach dem BAföG wegen der Anrechnung von Vermögen betrifft.
Bei der individuellen Ausbildungsförderung nach dem BAföG wird gem. § 26 BAföG Vermögen der Ausbildenden nach Maßgabe der Vorschriften der §§ 27–30 angerechnet. § 29 BAföG regelt Freibeträge vom Vermögen. Absatz 3 der Norm bestimmt, dass zur Vermeidung unbilliger Härten ein weiterer Teil des Vermögens anrechnungsfrei bleiben kann.
Die Auslegung des Gesetzes und seine Anwendung auf den konkreten Fall sind zwar Sache der dafür zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das BVerfG grds. entzogen. Allerdings kommt ein verfassungsrechtliches Eingreifen gegenüber den Entscheidungen der Fachgerichte jedoch u.a. unter dem Gesichtspunkt der Verletzung des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) in seiner Bedeutung als Willkürverbot in Betracht (s. bereits BVerfG, Beschl. v. 13.1.1987 – 2 BvR 209/84, BVerfGE 74, 102, 127 = NJW 1998, 45). Ein solcher Verfassungsverstoß liegt bei gerichtlichen Entscheidungen nicht schon dann vor, wenn die Rechtsanwendung Fehler enthält, sondern erst dann, wenn die Entscheidung bei verständiger Würdigung der das GG beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht. Dieser Maßstab gilt auch für die verfassungsrechtliche Überprüfung der von den Fachgerichten vorgenommenen Beweiswürdigung und der von ihnen getroffenen tatsächlichen Feststellungen. Aufgrund der hier nicht darzulegenden konkreten Gegebenheiten des zu beurteilenden Falls – s. hierzu den angegebenen Sachverhalt und Rn 11 und 12 des Beschlusses – stellte das BVerfG fest, dass die angefochtenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen den Bf. in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzten.
Die Entscheidung ist über das BAföG hinaus von Bedeutung: Das Sozialrecht enthält eine Vielzahl vergleichbarer Härteregelungen. So bestimmt bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende § 12 Abs. 1 Nr. 7 SGB II, dass bei einzusetzendem Vermögen Sachen und Rechte nicht zu berücksichtigen sind, soweit ihre Verwertung für die betroffene Person eine besondere Härte bedeuten würde. Eine ähnliche Regelung enthält für die Sozialhilfe § 90 Abs. 3 S. 1 SGB XII. Bei der Arbeitsförderung werden Leistungen grds. nur erbracht, wenn sie vor Eintritt des leistungsbegründenen Ereignisses beantragt worden sind. Zur Vermeidung unbilliger Härten kann jedoch nach § 324 Abs. 2 S. 2 SGB III eine verspätete Antragstellung zugelassen werden. Hinsichtlich des Vermögenseinsatzes bei der Eingliederungshilfe nach dem Teil 2 des SGB IX bestimmt § 140 Abs. 2 SGB IX, dass die beantragte Leistung u.a. als Darlehen geleistet werden soll, wenn der sofortige Verbrauch oder die sofortige Verwertung des einzusetzenden Vermögens eine Härte bedeuten würde. § 76 Abs. 2 Nr. 1 SGB IV macht die Stundung von Ansprüchen von Sozialversicherungsträgern u.a. davon abhängig, dass die sofortige Einziehung mit erheblichen Härten für die Zahlungspflichtigen verbunden wäre. Die Aussetzung des Sofortvollzug von Beitragsbescheiden richtet sich nach § 86a Abs. 3 S. 2 SGG u.a. danach, dass der Sofortvollzug eine „unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte”. Bei der Anwendung dieser und entsprechender Härteregelungen werden Behörden und Gerichte die Besonderheiten des Einzelfalls zu ermitteln und zu würdigen haben. Geschieht dies nicht, können die Betroffenen sich nach Durchlaufen des Instanzenzugs ggf. auch mit der Verfassungsbeschwerde zur Wehr setzen.
ZAP F. 18, S. 1013–1032
Von Rechtsanwalt Dr. Ulrich Sartorius, Fachanwalt für Sozialrecht und Fachanwalt für Arbeitsrecht, Breisach und Prof. Dr. Jürgen Winkler, Katholische Hochschule Freiburg