Im Jahre 1996 hat ein Ereignis die Schachwelt erschüttert: Der Schachcomputer "Deep Blue" hat den damaligen Weltmeister Garri Kasparow geschlagen. Im Frühjahr 2018 ist auf dem Gebiet der rechtlichen Konfliktlösung etwas Ähnliches geschehen. Etwas, das einen Paradigmenwechsel bezüglich unserer Tätigkeit als Rechtsanwalt einläuten könnte: Im "Tagesanzeiger" vom 26.5.2018 berichtete Barnaby Skinner in dem Artikel "Der Roboter-Anwalt ist da", was das Programm "Case Crunch" des 22-jährigen Jura-Studenten Ludwig Bull (Cambridge), der sich in Japan auch zum Software-Spezialisten hat ausbilden lassen, leisten kann: "Case Crunch" wurde mit den Daten von über 23.000 entschiedenen Fällen aus dem Versicherungsrecht "gefüttert". Dieselben Fälle wurden 110 Fachanwälten vorgelegt. Das Programm und die Anwälte hatten eine Woche Zeit, so viele Fälle wie möglich zu lösen. Nach einer Woche hatten die Anwälte 775 Fälle mit einer Trefferquote von 62,3 % gelöst, das Programm aber 21.174 Fälle mit einer Trefferquote von 86,6 %. Dass Programm war bei einer um fast 25 % höheren Trefferquote fast 28-mal effektiver. Noch erschreckender ist die Kosteneffizienz: Die Anwälte berechneten bei einem Stundenhonorar von 440 EUR für ihre Leistung 470.000 EUR, das Programm lediglich 3.800 EUR. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Konzerne mit großen Rechtsabteilungen wie UBS, CS, Zurich oder Helsana großes Interesse an "Case Crunch" gezeigt haben.
Ein weiteres Beispiel: Die Kanzlei CMS Hasche Sigle informierte ihre Kunden im Juni 2018 über "Smart Contracts", ein Softwareprogramm, das vertragliche Leistungsstörungen regelt. Kauft man z.B. ein Flugticket von München nach Moskau für 1.000 EUR und hat der Flieger aus verschiedenen Gründen drei Stunden Verspätung, berechnet das Programm, wie viel diese Leistungsstörung wert ist. Unterbreitet wurde der Vorschlag, dass von den 1.000 EUR Ticketpreis 800 EUR bei der Fluggesellschaft verbleiben, 200 EUR aber an den Kunden zurückgehen.
Für jede Art von Verträgen wurden deshalb von Juristen, die gleichzeitig Software-Ingenieure – sog. Legal Engineers – sind, Algorithmen entwickelt, die so viele rechtsrelevante Sachverhaltspunkte wie möglich berücksichtigen können. eBay und Amazon regeln seit Jahren ihre Konflikte auf diese Art und Weise und haben so schon 100.000.000 Streitigkeiten gelöst und dadurch dem Rechtsmarkt entzogen.
Nach ihrer Präsentation fragten die Legal Engineers von CMS Hasche Sigle, ob unter den anwesenden Unternehmensjuristen bereits jemand Erfahrungen mit "Smart Contracts" gesammelt hätte. Der Chefjurist eines der größten deutschen Dienstleistungsunternehmens bejahte dies, meinte aber, dass eine Vertiefung der Diskussion nicht erfolgt sei, da man zum Ergebnis gekommen sei, dass das rein rechtlich keinen Vorteil bringen würde. Denn am Ende sei der Kunde, der sein Recht durchsetzen wolle, trotzdem gezwungen, rechtlich gegen die Konstruktion des Algorithmus vorzugehen.
Als ich das hörte, ist mir bewusst geworden, wie unendlich groß der Unterschied in der Denkweise der heutigen "klassischen" Juristen zu den Legal Engineeners ist: Die einen – wir nämlich – denken immer noch in der bürokratischen/konformistischen Dichotomie richtig/falsch. Die anderen – die Legal Engineers – haben diese Phase hinter sich gelassen und denken vollumfänglich in der leistungsorientierten Dichotomie erfolgreich/erfolglos. Mir wurde schlagartig klar, dass wir der Verwirklichung meiner Behauptung – in Zukunft sind immer weniger Menschen daran interessiert, Recht zu bekommen, sondern vielmehr daran, den bestehenden Konflikt effizient und leistungsorientiert zu lösen (s. hierzu ZAP Kolumne 7/2018, S. 313) – näher sind, als viele von uns wahrhaben wollen.
Den Legal Engineers geht es um eins und vermutlich nur um das: Sie wollen Leistungsstörung so erfolgreich wie möglich abwickeln, und Erfolg haben sie genau dann, wenn dies schnell und kostengünstig geschieht. Es geht ihnen somit um eine effiziente Regelung des Konflikts, da dieser im Kern nur Kosten verursacht und Zeit und Ressourcen bindet. Die Frage, die sich ihnen stellt, ist somit nicht mehr, wer hat Recht und wer nicht, sondern wie kann der Streit so rasch und so kostengünstig wie möglich beigelegt werden. Wir Juristen meinen aber immer noch, die Mandanten würde es tatsächlich interessieren, ob ihre Meinung mit der des Gesetzgebers übereinstimmt oder nicht! So kommt auch die Antwort des Chefjuristen zustande: "Wer sein Recht will, muss gegen die Konstruktion des Algorithmus klagen!"
Das ist sicherlich richtig, nur wird dabei vermutlich etwas vergessen, nämlich die Sicht der Entwicklungspsychologie: Im Übergang von Macht zur Konfliktlösung des modernen Rechts um 1805 hat es immer weniger Menschen gegeben, die den Gegner noch erdolchen, erschießen oder ihn anderweitig beiseiteschaffen wollten, sondern vielmehr auf das Recht als Konfliktlösungsmittel gesetzt haben. Heute gibt es vermutlich immer weniger Menschen, die unbedingt Recht haben, sondern vielmehr den Konflikt e...