Der Europäische Gerichtshof (EuGH) sieht Fahrräder mit Elektrounterstützung, die ohne Treten nur auf 20 km/h beschleunigt werden können, nicht als Kraftfahrzeuge i.S.d. Kfz-Haftpflichtversicherungsrichtlinie an. Dies stellte er Mitte Oktober zu einem Verkehrshaftpflichtfall fest, der derzeit vor belgischen Gerichten verhandelt wird (EuGH, Urt. v. 12.10.2023 – C-286/22).
In dem Ausgangsverfahren in Belgien ging es um einen Radfahrer, der auf seinem Fahrrad mit Elektrounterstützung im öffentlichen Straßenverkehr Opfer eines schweren Unfalls wurde. Er wurde von einem Auto angefahren, schwer verletzt und verstarb einige Monate später. Im späteren Gerichtsverfahren zur Feststellung eines möglichen Entschädigungsanspruchs wurden unterschiedliche Auffassungen zur rechtlichen Einordnung des Fahrrads mit Elektrounterstützung vertreten, v.a. zur Frage, ob es als Kraftfahrzeug anzusehen ist. Im vorliegenden Fall bot der Motor, auch bei Nutzung der Boost-Funktion, nur eine Tretunterstützung. Außerdem konnte diese Funktion nur nach Einsatz von Muskelkraft aktiviert werden (durch Treten, Schieben oder Anschieben des Fahrrads). Die rechtliche Einordnung des betreffenden Fahrrads ist entscheidend für die Feststellung, ob der Geschädigte Fahrer eines Fahrzeugs war oder ob er als sog. schwacher Verkehrsteilnehmer nach belgischem Recht Anspruch auf eine automatische Entschädigung hatte.
In seiner Entscheidung stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass die einschlägige EU-Richtlinie (Richtlinie 2009/103/EG v. 16.9.2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht, ABl 2009, L 263, S. 11) keinen Hinweis darauf enthält, ob ein „Fahrzeug” ausschließlich maschinell angetrieben sein muss. Die Richter argumentierten jedoch, dass sich die Richtlinie auf die „Kfz-Haftpflichtversicherung” bezieht; dieser Ausdruck bezeichne im allgemeinen Sprachgebrauch üblicherweise eine Haftpflichtversicherung für den Verkehr von Gefährten wie Motorrädern, Personenkraftwagen und Lastkraftwagen, die ausschließlich maschinell angetrieben würden.
Der EuGH weist zudem auf das Ziel der Richtlinie hin, nämlich den Schutz der Opfer von durch Kraftfahrzeuge verursachten Verkehrsunfällen. Dieses Ziel erfordere nicht, dass Fahrräder mit Elektrounterstützung unter den Begriff „Fahrzeug” i.S.d. Richtlinie fallen. Gefährte, die nicht ausschließlich maschinell angetrieben werden, wie etwa Fahrräder mit Elektrounterstützung, die ohne Treten auf eine Geschwindigkeit von bis zu 20 km/h beschleunigt werden könnten, seien nämlich nicht geeignet, Dritten Personen- oder Sachschäden zuzufügen, die mit denen vergleichbar sind, die von Motorrädern, Personenkraftwagen, Lastkraftwagen oder anderen ausschließlich maschinell angetriebenen Fahrzeugen verursacht werden können.
[Quelle: EuGH]
ZAP F., S. 1091–1096