Ein oftmals verkannter Sachverhalt des Sonderkündigungsschutzes lag den beiden Entscheidung des BAG (Urt. v. 26.6.2017 – 2 AZR 405/16, NZA 2017, 522 und Urt. v. 18.5.2017 – 2 AZR 384/16, juris) zugrunde:
Die Klägerin war seit über 35 Jahren zuletzt als Telefonistin beschäftigt. Seit dem Jahr 1969 – letztmals geändert am 18.12.2009 – galt eine Betriebsvereinbarung (§ 4 BV), die Sonderkündigungsschutz gewährte: "Mitarbeiter/-innen, die mehr als 20 Jahre ununterbrochen in der Bank tätig gewesen sind, können nur aus einem in ihrer Person liegenden wichtigen Grund gekündigt werden."
§ 17 Nr. 3 des anwendbaren Manteltarifvertrags für das private Bankgewerbe und die öffentlichen Banken (MTV) vom 12.11.1975 lautet: "Arbeitnehmer, die das 55. Lebensjahr vollendet haben und dem Betrieb mindestens 15 Jahre angehören, sind nur bei Vorliegen eines wichtigen Grundes und bei Betriebsänderungen i.S.d. § 111 BetrVG kündbar."
In den Schlussbestimmungen des MTV – zuletzt in § 19 Nr. 3 – heißt es seit dem Jahr 1954: "Günstigere Arbeitsbedingungen, auf die ein Arbeitnehmer durch Betriebsvereinbarung oder kraft eines besonderen Arbeitsvertrags Anspruch hat, bleiben bestehen."
Auf der Grundlage eines Interessenausgleichs war mit Zustimmung der Beklagten ein Ringtausch zwischen Mitarbeitern möglich, die von den Maßnahmen aus dem Interessenausgleichs nicht betroffen sind, und vergleichbaren Betroffenen, die ein Angebot auf Abschluss eines Aufhebungsvertrags oder einer Altersregelung abgelehnt haben.
Die Arbeitgeberin übertrug die Arbeiten der Telefonzentrale einem externen Dienstleister ("Outsourcing"). Nachdem sie der Klägerin vergeblich ein Angebot auf Abschluss eines Aufhebungsvertrags unterbreitet und den Betriebsrat nach § 102 BetrVG angehört hatte, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien mit Schreiben vom 20.6.2014 aus dringenden betrieblichen Gründen ordentlich zum 31.1.2015. Die Klägerin berief sich auf den Sonderkündigungsschutz der Betriebsvereinbarung.
Die Klage war in allen drei Instanzen erfolglos. Das Arbeitsverhältnis war ordentlich kündbar und die Kündigung sozial gerechtfertigt. Der Betriebsrat war ordnungsgemäß angehört. Eine Massenentlassung lag nicht vor.
Die streitgegenständliche Kündigung war unstreitig im Zuge einer Betriebsänderung gem. § 111 BetrVG erklärt worden, weshalb der in § 17 Nr. 3 MTV normierte Schutz vor ordentlichen Kündigungen nicht eingreift. Auch waren die tariflichen Abbauziele nicht erreicht. Die Berufung auf § 4 BV hilft nicht: Zwar erfüllt die Klägerin alle Tatbestandsvoraussetzungen. Doch verstieß § 4 BV als normative Bestimmung gegen den Tarifvorrang und ist deshalb rechtsunwirksam. Nach § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Dies gilt nach Satz 2 der Vorschrift nur dann nicht, wenn ein Tarifvertrag den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulässt. Eine Umdeutung in eine Gesamtzusage war nicht möglich.
Hinweise:
Das BAG setzt seine Rechtsprechung fort und wiederholt die Grundsätze mustergültig:
- Der Tarifvorrang nach § 77 Abs. 3 BetrVG gilt stets unabhängig von der Günstigkeit (BAG a.a.O., Rn 16).
- Die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG gilt unabhängig von der Tarifbindung des Arbeitgebers (BAG, Urt. v. 13.3.2012 – 1 AZR 659/10, Rn 20; BAG, Urt. v. 18.3.2010 – 2 AZR 337/08, Rn 34, 35).
- Die Grundsätze gelten auch für die Regelungssperre des Personalvertretungsrechts (vorliegend gem. § 70 Abs. 1 S. 2 LPVG NRW i.d.F. vom 22.1.1985 und deren Vorläufer (vgl. BAG, Urt. v. 27.6.2006 – 3 AZR 255/05, Rn 26, 27, BAGE 118, 326).
- Die Regelungssperre wirkt unabhängig vom Zeitpunkt des Inkrafttretens des Tarifvertrags, wenn entsprechende Tarifbestimmungen erst später in Kraft treten. Die betriebliche Regelung wird dann ab dem Inkrafttreten ex nunc unwirksam (BAG, Urt. v. 21.1.2003 – 1 ABR 9/02, zu B II. 2. c. aa. (1) der Gründe).
- Rechtsfolge: Eine gegen § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG verstoßende Betriebsvereinbarung ist von Anfang an unwirksam.
- Ausnahme: Für eine Sozialplanregelung i.S.d. § 112 Abs. 1 S. 2 BetrVG, die eine Milderung von Nachteilen, die Arbeitnehmern infolge einer geplanten Betriebsänderung entstehen, zum Gegenstand hat, gilt nach § 112 Abs. 1 S. 4 BetrVG die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG nicht.