Die Entscheidungen des BAG v. 23.1.2020 – 8 AZR 484/18 (NZA 2020, 851 = NJW 2020, 2289) und v. 28.5.2020 – 8 AZR 170/19 betreffen Ansprüche schwerbehinderter Menschen, die als Bewerber um einen Arbeitsplatz von einem öffentlichen Arbeitgeber entgegen § 82 S. 2 SGB IX aF (nunmehr, seit 1.1.2018, wortgleich § 165 S. 3 SGB IX, so dass die Rechtsprechung auch für die neue Gesetzesfassung anwendbar ist) nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wurden. Die vorgenannte Verpflichtung für öffentliche Arbeitgeber gilt in gleicher Weise für Personen, die schwerbehinderten Menschen gleichgestellt sind, s. § 151 Abs. 1 SGB IX (bis zum 31.12.2017: § 68 Abs. 1 SGB IX).
Das BAG bestätigt zunächst seine frühere Rechtsprechung, wonach Bewerber i.S.v. § 6 Abs. 1 S. 2 Alt.1 AGG ist, wer eine Bewerbung beim Arbeitgeber eingereicht – erforderlich ist der Zugang i.S.v. § 130 BGB – hat. Nicht erforderlich ist, dass Arbeitgeber bzw. die bei diesen über die Bewerbung entscheidenden Personen tatsächlich Kenntnis von einer zugegangenen Bewerbung nehmen (BAG v. 23.1.2020, Rn 16 ff.).
Entgegen der Annahme des LAG im Verfahren BAG v. 23.1.2020 folgt ein Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG nicht unmittelbar aus dem Umstand, dass ein schwerbehinderter Mensch von einem öffentlichen Arbeitgeber nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wird. Vielmehr stellt die in § 82 S. 2 SGB IX aF normierte Verpflichtung zur Einladung zum Vorstellungsgespräch eine Verfahrenspflicht öffentlicher Arbeitgeber zugunsten schwerbehinderter (und ihnen gleichgestellter) Menschen dar, die lediglich eine – von diesen widerlegbare – Vermutung i.S.v. § 22 AGG einer Benachteiligung wegen der (Schwer-) Behinderung begründen kann. Dies entspricht st. Rpsr. des BAG (Nachweise in Rn 37 der Entscheidung v. 23.1.2020, a.a.O.).
Besteht die Vermutung einer Benachteiligung, trägt die andere Partei die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht verletzt worden ist. Hierfür gilt das Beweismaß des sog. Vollbeweises: Der Arbeitgeber muss Tatsachen vortragen und ggf. beweisen, aus denen sich ergibt, dass ausschließlich andere als die in § 1 AGG genannten Gründe zu einer ungünstigeren Behandlung geführt haben. Ein Arbeitgeber kann die Vermutung etwa dadurch widerlegen, dass er vorträgt und ggf. beweist, dass er – bzw. die bei ihm über die Einstellung entscheidenden Personen – aufgrund besonderer, ihm nicht zurechenbarer Umstände des Einzelfalles nicht die Möglichkeit hatte/-n eine entsprechend § 130 BGB zugegangenen Bewerbung tatsächlich zur Kenntnis zu nehmen. In einem solchen Fall wäre es ausgeschlossen, dass ein Grund i.S.v. § 1 AGG und damit auch die Behinderung in einem Motivbündel des Arbeitgebers – positiv oder negativ – eine Rolle gespielt haben. Ein solcher Sachverhalt lag in den entschiedenen Fällen nicht vor.
Hinsichtlich der Erwägungen, die bei der Bestimmung der angemessenen Entschädigung für den erlittenen immateriellen Schaden nach § 15 Abs. 2 AGG maßgeblich sind, ist v.a. auf die Entscheidung des BAG v. 28.5.2020 – 8 AZR 179/19 abzuheben. Den Tatsachengerichten steht insoweit nach § 287 Abs. 1 ZPO ein weiter Ermessensspielraum zu. Die Festsetzung der angemessenen Entschädigung unterliegt infolgedessen nur einer eingeschränkten revisionsgerichtlichen Kontrolle. Es ist hier lediglich zu überprüfen, ob das LAG die Rechtsnorm zutreffend ausgelegt, ein Ermessen ausgeübt, die Ermessensgrenze nicht überschritten hat und ob es von seinem Ermessen einen fehlerfreien Gebrauch gemacht hat, in dem es sich mit allen für die Bemessung der Entschädigung maßgeblichen Umständen ausreichend auseinandergesetzt und nicht von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen.
Die vom LAG vorliegend getroffene Festsetzung einer dem Kläger zustehende Entschädigung von 1000 EUR (bei einem auf der ausgeschriebenen Stelle erzielbaren Monatsentgelt von ca. 3.400 EUR) hielt dieser eingeschränkten revisionsrechtlichen Kontrolle nicht stand; das BAG sprach eine Entschädigung von 5100 EUR zu, ein Betrag, der ca. 1,5 auf der ausgeschriebenen Stelle erzielbaren Monatsentgelten entsprach.
Das Berufungsgericht war zunächst bei seiner Ermessensausübung rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, es habe eine Entschädigung von vornherein nur i.R.v. bis zu 3 Bruttomonatsentgelten festsetzen dürfen und demnach verkannt, dass es sich bei der Grenze in § 15 Abs. 2 S. 2 AGG um eine Kappungsgrenze handelt.
Ferner listet das BAG, a.a.O. (Rn 31 ff) auf, welche Umstände das LAG zu Unrecht zugunsten der Beklagten und damit zulasten des Klägers berücksichtigt hatte:
- ein freundlich formuliertes Absageschreiben, dem entnommen wurde, dass es nicht davon bestimmt war, den Kläger herabzuwürdigen,
- die langjährig überobligatorische Pflichterfüllung bei der Einstellung von Menschen mit Schwerbehinderung durch die Beklagte,
- der Umstand, dass sich die Beklagte als öffentlicher Arbeitgeber aus Beitragsmitteln von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanziert,
- das spätere Angebot der Beklagten an den ...