Im Rahmen einer Nichtzulassungsbeschwerde hatte sich das BAG mit dem Fall eines Arbeitnehmers zu befassen, dessen Arbeitgeber das Anstellungsverhältnis außerordentlich und fristlos wegen einer angeblich von ihm begangenen Tätlichkeit gekündigt hatte. Im Laufe des erstinstanzlichen Verfahrens schob die Beklagte weitere Kündigungsgründe nach (Behauptung vorsätzlich fehlerhafter Abrechnungen von Behandlungen, Fehlbehandlungen von Patienten und ein Fall eines Vertrauensbruchs gegenüber dem Familiengericht). Das BAG verwirft die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LAG, das die Kündigungsschutzklage als unbegründet ansah, als unzulässig, nimmt aber – als obiter dicta, weil nicht entscheidungserheblich – in den Entscheidungsgründen auch materiellrechtlich Stellung.
Es führt in Fortsetzung der bisherigen Rechtsprechung (vgl. BAG, Urt. v. 4.6.1997 – 2 AZR 362/96, NZA 1997, 1158 m.w.N.) aus, § 626 Abs. 2 BGB bilde weder in direkter noch in analoger Anwendung eine Schranke für das Nachschieben von Kündigungsgründen, die bei Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung bereits objektiv vorlagen, dem Kündigungsberechtigten aber noch nicht bekannt waren. Die „Kündigung als solche” sei in solchen Fällen „rechtzeitig” erklärt, vorbehaltlich eines völligen „Auswechselns” der Kündigungsgründe, für dessen Bejahung, soweit ersichtlich, es bisher keine Entscheidung des BAG gibt.
Das Gericht führt ferner aus, eine Kündigung könne zunächst auch ohne jeden, nur ansatzweise tragfähigen Grund „gleichsam blanko” erklärt werden, wobei es auch (entgegen Bader, NZA-RR 2020, 140, 142) keine Rolle spiele, ob ein ursprünglich herangezogener Kündigungsgrund bei Ausspruch der Kündigung bereits verfristet war (BAG, Beschl. v. 12.1.2021 – 2 AZN 724/20; hierzu Gravenhorst, jurisPR-ArbR 23/2021 Anm. 1).
Hinweise:
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Das BAG lässt die Entscheidung offen, ob ein vollständiges Auswechseln der Kündigungsgründe abweichend zu beurteilen wäre, es deutet jedoch an, auch in diesem Fall gleich zu entscheiden, weil
- die Kündigung unabhängig vom Grund ist,
- sie ein „neutrales” Gestaltungsrecht ist,
- selbst ohne Grund eine offensichtlich unbegründete Kündigung das Arbeitsverhältnis wirksam auflöst, wenn keine Klage erhoben wird, §§ 4, 7 KSchG.
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2. |
Für das Nachschieben von Kündigungsgründen bei einer Verdachtskündigung ist nach der Rechtsprechung des BAG zu beachten (vgl. BAG, Urt. v. 23.5.2013 – 2 AZR 102/12, juris):
- Es kommt nicht nur auf die dem Arbeitgeber bei Kündigungsausspruch bekannten tatsächlichen Umstände an. Es sind auch später bekannt gewordene Umstände zu berücksichtigen – zumindest, wenn sie bei Kündigungszugang objektiv bereits vorlagen –, die den ursprünglichen Verdacht abschwächen oder verstärken (Rn 25).
- Daneben können selbst solche Tatsachen in den Prozess eingeführt werden – nachgeschoben werden – die den Verdacht eines eigenständigen – neuen – Kündigungsvorwurfs begründen. Voraussetzung dafür ist, dass der neue Kündigungsgrund bei Ausspruch der Kündigung schon gegeben, dem AG nur noch nicht bekannt war (BAG a.a.O. Rn 25).
- Sowohl bei lediglich verdachtserhärtenden neuen Tatsachen als auch bei Tatsachen, die den Verdacht einer weiteren Pflichtverletzung begründen, bedarf es keiner erneuten Anhörung des Arbeitnehmers. Er kann sich gegen den verstärkten bzw. neuen Verdacht ohne Weiteres im anhängigen Kündigungsschutzverfahren verteidigen (BAG a.a.O. Rn 29).
- Neu bekannt gewordene, bei Kündigungsausspruch objektiv bereits gegebene Gründe, können nach Ablauf der Zweiwochenfrist in den Prozess eingeführt werden. Die Zweiwochenfrist gilt nach dem Wortlaut allein für die Ausübung des Kündigungsrechts. Ist die Kündigung als solche rechtzeitig erklärt, schließt § 626 Abs. 2 S 1 BGB ein Nachschieben nachträglich bekannt gewordener Gründe nicht aus (BAG a.a.O. Rn.33).
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3. |
Besteht ein Betriebsrat können im Kündigungsschutzprozess Kündigungsgründe nur nachgeschoben werden, wenn der Arbeitgeber zuvor den Betriebsrat hierzu erneut angehört hat (Fortführung: BAG v. 11.4.1985 – 2 AZR 239/84, NZA 1986, 674, m.w.N.). |
4. |
Gravenhorst, a.a.O., weist zu Recht darauf hin, dass die Kündigung eines Berufsausbildungsverhältnisses gem. § 22 Abs. 3 BBiG nicht nur schriftlich, sondern nach Ablauf der Probezeit „unter Angabe der Kündigungsgründe” erfolgen muss, die nicht länger als zwei Wochen bekannt sein dürfen. Ein Nachschieben von Kündigungsgründen ist hier ausgeschlossen. |
5. |
Bei schwerbehinderten Arbeitnehmern oder solchen Gleichgestellten (§ 2 Abs. 3, § 151 Abs. 2 SGB IX) ist die Rechtslage überaus uneinheitlich:
- Unter Hinweis auf die strikte Trennung des Verwaltungsverfahrens hat das LAG Köln entschieden, ein Nachschieben von Kündigungsgründen solle generell nicht möglich sein, wenn die Gründe nicht zuvor Gegenstand des Zustimmungsverfahrens vor dem Integrationsamt (§ 168 ff SGB IX) waren. Dies gelte auch dann, wenn offensichtlich kein Zusammenhang zwischen Kündigungsgrund und Behinderung besteht (LAG Köln, Urt. v. 15.7.2020 – 3 Sa 73...
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