Der Zweite Senat des BAG setzt seine Rechtsprechung zur sexuellen Belästigung und zur Zurückweisung einer Kündigung wegen fehlender Vollmachtsvorlage nach § 174 BGB fort (vgl. BAG, Urt. v. 20.5.2021 – 2 AZR 596/20, NZA 2021, 1178).
Kurz gefasst lag folgender Sachverhalt vor: Der Kläger hatte einem Leiharbeitnehmer in der Nachtschicht des 1./2.5.2019 nicht nur die Arbeitshose, sondern auch die Unterhose heruntergezogen, sodass dieser für mehrere Sekunden im Genitalbereich entblößt im sog. Takt gestanden hatte. Er war den Blicken von mehreren Arbeitskollegen und deren Gelächter ausgesetzt. Die Arbeitgeberin kündigte außerordentlich aus wichtigem Grund.
Bei der zweistufigen Prüfung einer außerordentlichen Kündigung ist nach der ständigen Rechtsprechung auf der ersten Stufe der Kündigungsgrund an sich – die Pflichtverletzung i.S. eines wichtigen Grundes nach § 626 Abs. 1 BGB – und auf der zweiten Stufe die umfassende Interessenabwägung, der Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses auch nur für die Zeit der ordentlichen Kündigungsfrist zu prüfen. Eine Entblößung der Genitalien eines anderen unter Missachtung seines Rechts auf Selbstbestimmung, wem gegenüber und in welcher Situation er sich unbekleidet zeigen möchte, stellt ein sexuell bestimmtes Verhalten i.S.v. § 3 Abs. 4 AGG dar und erfüllt damit den Tatbestand des wichtigen Grundes auf der ersten Stufe der Prüfung. Es ist dann Sache des Arbeitnehmers, Tatsachen vorzutragen, die sein Verhalten als nicht sexuell bestimmtes Verhalten tragen. Einen derartigen Vortrag hätte der Arbeitgeber zu widerlegen und Beweis für seinen Vortrag anzutreten.
Für die Interessenabwägung i.R.v. § 626 Abs. 1 BGB stellt der Senat klar, dass bei Vorliegen einer Vertragspflichtverletzung zu prüfen ist, ob dem Kündigenden eine mildere Reaktion als eine fristlose Kündigung, also insb. eine Abmahnung oder fristgerechte Kündigung zumutbar war. Ordentliche und außerordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setzen regelmäßig eine Abmahnung voraus. Einer Abmahnung bedarf es jedoch dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach einer Abmahnung nicht zu erwarten steht oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist. Ausreichend für die Entbehrlichkeit der Abmahnung ist es, wenn eine der beiden Alternativen gegeben ist. Die beiden Tatbestandsmerkmale müssen nur alternativ und nicht kumulativ vorliegen. D.h. Liegt nur eine dieser Fallgruppen vor, kann Ergebnis der Interessenabwägung nicht sein, den Kündigenden auf eine Abmahnung als milderes Mittel zu verweisen.
Das LAG hatte die Einmaligkeit des Vorfalls gewürdigt. Das ist bei der zweiten Fallgruppe rechtsfehlerhaft. Sie betrifft ausschließlich das Gewicht der in Rede stehenden Vertragspflichtverletzung, die für sich schon die Basis für eine weitere Zusammenarbeit irreparabel entfallen lässt. Das Gewicht der Pflichtverletzung ist aber gerade unabhängig von einer Wiederholungsgefahr. Die Schwere einer Pflichtverletzung kann zwar nur anhand der sie beeinflussenden Umstände des Einzelfalls beurteilt werden, diese müssen aber die Pflichtwidrigkeit selbst oder die Umstände ihrer Begehung betreffen. Dazu gehören etwa ihre Art und ihr Ausmaß, ihre Folgen, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers sowie die Situation bzw. das „Klima”, in der bzw. in dem sie sich ereignete.
Der Senat hat zur weiteren Sachverhaltsaufklärung an das LAG zurückverwiesen. Diese hat sich auch auf die Zurückweisung der Kündigung zu erstrecken.
Hinweise:
1. |
Die Zurückweisung nach § 174 S. 1 BGB ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung. Maßgeblich dafür, ob sie unverzüglich erfolgte ist ihr Zugang beim Erklärungsempfänger. § 121 Abs. 1 S. 2 BGB als Sondervorschrift für die Anfechtung gem. §§ 119, 120 BGB findet keine, auch keine analoge Anwendung. |
2. |
Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG zu § 174 S. 1 BGB muss die Zurückweisung nicht sofort, sondern nur ohne schuldhaftes Zögern erfolgen. Dem Kündigungsempfänger ist eine gewisse Zeit zur Überlegung und zur Einholung des Rats eines Rechtskundigen darüber einzuräumen, ob er das einseitige Rechtsgeschäft wegen fehlender Vorlage eines Vollmachtbelegs zurückweisen soll. Innerhalb welcher Zeitspanne der Erklärungsempfänger das Rechtsgeschäft zurückweisen muss, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Im Arbeitnehmermandat gilt jedoch der strikte Grundsatz: Die Zurückweisung einer Kündigungserklärung muss innerhalb einer Woche erfolgen. Sonst ist sie nicht mehr unverzüglich i.S.d. § 174 S. 1 BGB (BAG 20.5.2021, a.a.O. Rn 14). |
3. |
Bei einer Zurückweisung nach mehr als einer Woche bedarf es des Vorliegens besonderer Umstände. Solche Umstände hat die Rechtsprechung bisher nur bejaht, wenn eine Kumulation von Feiertagen vorlag, welche einen Rechtsrat innerhalb einer Wo... |