Die Parteien streiten darüber, ob der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG wegen einer Benachteiligung aufgrund der Behinderung zu zahlen (zu Entschädigungsansprüchen nach § 15 Abs. 2 AGG s. bereits die Verfasser, ZAP F. 17 R, 1011 ff., 1031 ff.). Das BAG hatte im Berichtszeitraum zwei wichtige Fragen zu entscheiden:
- Welche Rechtsfolge zieht der Verstoß gegen § 165 S. 1 SGB IX bei öffentlichen Arbeitgebern nach sich?
- Begründet ein Verstoß gegen § 168 SGB IX durch Ausspruch einer Arbeitgeberkündigung gegenüber einem schwerbehinderten Menschen ohne vorherige Beteiligung des Integrationsamtes die Vermutung nach § 22 AGG?
a) Diskriminierungsvermutung bei Nichtmeldung an die Arbeitsagentur
Im Fall des BAG (Urt. v. 25.11.2021 – 8 AZR 313/20, NZA 2022, 638) veröffentlichte der beklagte öffentliche Arbeitgeber im November 2017 über die Jobbörse der Bundesagentur für Arbeit eine Stellenausschreibung, nach der die Stelle einer Amtsleitung zu besetzen war. Der mit einem GdB von 50 schwerbehinderte Kläger bewarb sich im November 2017 unter Angabe seiner Behinderung auf die ausgeschriebene Stelle. Mit Schreiben vom 11.4.2018 teilte ihm der Beklagte mit, dass er sich für einen anderen Bewerber entschieden habe. Zu einem Vorstellungsgespräch war der Kläger nicht eingeladen worden, weil in Folge eines Versehens der Sachbearbeiter bei Schwerbehinderung „nein” statt „ja” angekreuzt hatte. Nachdem der Kläger erfolglos außergerichtlich einen Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG geltend gemacht hatte, verfolgte er seinen Anspruch durch Klage weiter. Während er vor den Instanzgerichten erfolglos blieb, hielt das BAG seine zulässige Revision für begründet und sprach ihm eine angemessene Entschädigung i.H.v. 1,5 des auf der ausgeschriebenen Stelle erzielbaren Bruttomonatsgehalts (6.864 EUR) zu.
Als Anspruchsgrundlage kommt, so das BAG, zunächst § 164 Abs. 1 S. 4 SGB IX in Betracht. Nach dieser Vorschrift haben die Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung und die in § 176 SGB IX genannten Vertretungen über die Vermittlungsvorschläge der Bundesagentur für Arbeit oder eines Integrationsfachdienstes und vorliegende Bewerbungen von schwerbehinderten Menschen unmittelbar nach Eingang zu unterrichten. „Unmittelbar nach Eingang” im Sinne dieser Vorschrift bedeutet, dass die Unterrichtung umgehend bzw. sofort zu erfolgen hat. Unter „Unterrichtung” ist mehr als nur das Einräumen eines Zugangs zu Bewerbungsunterlagen zu verstehen. Vielmehr ist eine gezielte Informationsbeschaffung unter Hinweis auf die Behinderung des/der Bewerber/-in notwendig, so Rn 31. Ferner entscheidet das BAG, der Verstoß des Arbeitgebers gegen Vorschriften, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten (wie z.B. § 164 Abs. 1 S. 4 und § 165 S. 1 SGB IX), begründe regelmäßig die Vermutung einer Benachteiligung wegen der Behinderung i.S.v. § 22 AGG, Rn 26.
Das BAG lässt zwei Rechtsfragen, wegen bisher fehlender Aufklärung des Sachverhaltes offen: Erstens, ob der hier vorliegende objektive Verstoß des Beklagten gegen § 164 Abs. 1 S. 4 SGB IX ausnahmsweise nicht die Vermutung i.S.v. § 22 AGG begründet, dass der Kläger die unmittelbare Benachteiligung i.S.v. § 3 Abs. 1 AGG wegen seiner Schwerbehinderung erfahren hat. Zweitens, ob der Beklagte zudem gegen seine Verpflichtung aus § 165 S. 3 SGB IX verstoßen hat, den schwerbehinderten Kläger zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen (s. hierzu zuletzt BAG, Urt. v. 26.11.2020 – 8 AZR 59/20, NZA 2021; 635, ZAP F. 17 R 1053 f.).
Denn jedenfalls habe der Beklagte die zu besetzende Stelle nicht den Vorgaben des § 165 S. 1 SGB IX entsprechend der zuständigen Agentur für Arbeit gemeldet. Dieser Umstand begründe die Vermutung, dass der Kläger unmittelbar wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt wurde i.S.v. § 3 Abs. 1 AGG.
Nach der Vorschrift des § 165 S. 1 SGB IX melden die Dienststellen der öffentlichen Arbeitgeber den Agenturen für Arbeit frühzeitig nach einer erfolglosen Prüfung zur internen Besetzung des Arbeitsplatzes freiwerdende und neu zu besetzende sowie neue Arbeitsplätze. Dadurch soll gewährleistet werden, dass der Arbeitgeber von der Agentur für Arbeit Kenntnis über geeignete schwerbehinderte Bewerber und Bewerberinnen für die freie Stelle erhält. Möglichst vielen geeigneten schwerbehinderten Menschen soll die Möglichkeit gegeben werden, Arbeit zu finden. Es handelt sich um ein gesetzlich vorgesehenes Instrument zur Förderung der Teilhabe schwerbehinderter und ihnen gleichgestellter Menschen am Arbeitsleben in Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes (s. bereits BAG, Urt. v. 12.9.2006 – 9 AZR 807/05, NZA 2007, 506).
Eine ordnungsgemäße Meldung i.S.v. § 165 S. 1 SGB IX setzt die Erteilung eines Vermittlungsauftrags an die nach § 187 Abs. 4 SGB IX bei der Agentur für Arbeit eingerichteten besonderen Stellen zur Durchführung der der Agentur für Arbeit zur Teilhabe behinderter und schwerbehinderter Menschen im Arbeitsleben gesetzlich übertragenen Aufgaben unter Angabe der Daten, die für eine qualifizie...