§ 574 BGB findet nur bei ordentlichen Kündigungen gem. §§ 573, 573c BGB und außerordentlichen Kündigungen mit gesetzlicher Frist nach § 575a BGB Anwendung, er gilt zeitlich auch bei Beendigung zwischen Vertragsschluss und Mietbeginn. Eine analoge Anwendung auf eine Anfechtung des Mietvertrags ist nicht möglich (Staudinger/Rolfs, a.a.O., § 574 BGB Rn 16).
a) Besondere Härtegründe des Mieters
Die besonderen Härtegründe gehen über das generell bestehende Interesse des Mieters am Erhalt der Wohnung hinaus (sog. Allgemeines Bestandsinteresse). Sie werden nur auf aktiven Widerspruch des Mieters berücksichtigt (BGH, Urt. v. 29.3.2017 – VIII ZR 45/16, NJW 2017, 2018). Alle Nachteile wirtschaftlicher, finanzieller, gesundheitlicher, familiärer oder persönlicher Art fallen darunter, ebenso politische, kirchliche, künstlerische oder gesellschaftliche Interessen, wobei der Eintritt nicht mit absoluter Sicherheit feststehen muss, sondern mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (Schmidt-Futterer/Hartmann, a.a.O., § 574 BGB Rn 20 m.w.N.). In persönlicher Hinsicht werden Nachteile des Mieters, seiner Familie oder eines anderen Angehörigen seines Haushalts berücksichtigt. Haben Mitmieter den Mietvertrag abgeschlossen, genügt eine Härte eines einzelnen Mieters, wobei jeder Mieter sodann Widerspruch erheben kann, das Mietverhältnis wird in jedem Fall mit allen Mitmietern fortgesetzt (LG Bochum, Urt. v. 16.2.2007 – 10 S 68/06, ZMR 2007, 452; Staudinger/Rolfs, a.a.O., § 574 BGB Rn 16). Da das Gesetz den Kreis der Familie nicht weiter begrenzt, können alle Familienangehörigen subsumiert werden, die in derselben Wohnung wie der Mieter wohnen, wobei ein bestimmter Verwandtschaftsgrad nicht erforderlich ist (Staudinger/Rolfs, a.a.O., § 574 BGB Rn 25). Zu den „anderen Angehörigen” zählen Personen, die mit dem Mieter eine Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft bilden, was insb. bei eheähnlichen Gemeinschaften und gleichgeschlechtlichen Partnerschaften der Fall ist (Schmidt-Futterer/Hartmann, a.a.O., § 574 BGB Rn 23).
b) Zu berücksichtigende Vermieterinteressen
Gegen die Härtegründe des Mieters sind die im jeweiligen Kündigungsschreiben angegebenen Vermieterinteressen nach § 574 Abs. 3 BGB abzuwägen. Maßgebliche Vermieterinteressen sind alle diejenigen Gründe, die für eine Beendigung des Mietverhältnisses sprechen und von der Rechtsordnung gebilligt werden, wobei die Lebensplanung des Vermieters grds. zu berücksichtigen ist (BGH, Urt. v. 11.12.2019 – VIII ZR 144/19, NJW 2020, 1215).
c) Interessenabwägung und konkreter Zeitpunkt für das Vorliegen des Härtegrundes
Die Nachteile für den Mieter müssen „nicht zu rechtfertigen” sein, d.h. insb. deutlich über die kündigungstypischen Belastungen wie Mühe und Kosten der Ersatzwohnungssuche, den Umzug, die Her- und Einrichtung der neuen Wohnung hinausgehen, da ein in durchschnittlichen Verhältnissen lebender Mieter diese hinnehmen muss (BGH, Urt. v. 22.5.2019 – VIII ZR 167/17, WuM 2019, 454). Diese besonderen Härtegründe sind in einer umfassenden Einzelfallwürdigung des Tatrichters gegen die berechtigten Interessen des Vermieters an einer Beendigung des Mietverhältnisses abzuwägen, wobei eine Gesamtbewertung vorzunehmen ist, die eine umfangreiche Beweisaufnahme erforderlich machen kann (Staudinger/Rolfs, a.a.O., § 574 BGB Rn 75). Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt ist zunächst der Zugang des Widerspruchs beim Vermieter, zudem muss der Härtegrund bis zum Ablauf der Kündigungsfrist fortbestehen und im Falle eines Räumungsrechtsstreits auch noch im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz andauern (BGH, Urt. v. 22.5.2019 – VIII ZR 167/17, NZM 2019, 527). Ist ein Härtegrund zum letztgenannten Zeitpunkt bereits weggefallen oder zeichnet sich mit hinreichender Sicherheit ab, dass er in nächster Zeit wegfällt, kann er nicht mehr berücksichtigt werden (LG Oldenburg, Urt. v. 17.10.1990 – 9 S 1307/89, DWW 1991, 240).
Praxistipp:
Der BGH hat in einer Entscheidung aus dem Jahre 2021 (Urt. v. 3.2.2021 – VIII ZR 68/19, NZM 2021, 361) nochmals betont, dass die Interessenabwägung stets einzelfallbezogen auszufallen hat und dass es angesichts der Vielgestaltigkeit der Lebensverhältnisse unzulässig ist, bestimmten Belangen der Mietparteien kategorisch ein größeres Gewicht beizumessen als denen der Gegenseite. Als Konsequenz dieser Entscheidung kann eine aufwändige Beweisaufnahme mit Zeugeneinvernahmen und Sachverständigengutachten erforderlich sein, um die Anknüpfungstatsachen der Interessenabwägung zur Überzeugung des Tatrichters darzulegen. Vor allem bei der Eigenbedarfskündigung liegt es regelmäßig im besonderen Interesse des Vermieters, möglichst bald die gekündigte Wohnung beziehen zu können. Zu Vermeidung eines ggf. über zwei Jahre dauernden erstinstanzlichen Rechtsstreits kann es daher sachgerecht sein, eine Umzugskostenbeihilfe vergleichsweise an den Mieter zu bezahlen, um einen Räumungsvergleich zu erzielen, da erfahrungsgemäß in vielen Fällen mieterseits vorgetragene Härtegründe bei ausreichender finanzieller Kompensation einem Räumungsvergleich nicht entgegenstehen.
Inhaltlich muss das Tatgericht zu einem Überwiegen der Mieterinteress...