Zusammenfassung
- Das grundrechtsgleiche Recht des Art. 103 Abs. 3 GG enthält kein bloßes Mehrfachbestrafungsverbot, sondern ein Mehrfachverfolgungsverbot, das Verurteilte wie Freigesprochene gleichermaßen schützt.
- Es entfaltet seine Wirkung auch gegenüber dem Gesetzgeber, wenn dieser die gesetzlichen Voraussetzungen für eine erneute Strafverfolgung durch die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens schafft.
- Das in Art. 103 Abs. 3 GG statuierte Mehrfachverfolgungsverbot trifft eine Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit. Diese Vorrangentscheidung steht einer Relativierung des Verbots durch Abwägung mit anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang nicht offen, sodass dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wiederaufnahmerechts insoweit kein Gestaltungsspielraum zukommt.
- Art. 103 Abs. 3 GG umfasst nur eine eng umgrenzte Einzelausprägung des Vertrauensschutzes in rechtskräftige Entscheidungen. Er schützt den Einzelnen allein vor erneuter Strafverfolgung aufgrund der allgemeinen Strafgesetze, wenn wegen derselben Tat bereits durch ein deutsches Gericht ein rechtskräftiges Strafurteil ergangen ist.
- Im Rahmen dieses begrenzten Schutzgehalts verbietet Art. 103 Abs. 3 GG die Wiederaufnahme von Strafverfahren zum Nachteil des Grundrechtsträgers nicht generell, jedenfalls aber die Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel.
- Freigesprochene dürfen darauf vertrauen, dass die Rechtskraft des Freispruchs nur aufgrund der zum Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft geltenden Rechtslage durchbrochen werden kann. Der Grundsatz ne bis in idem erkennt die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in ein freisprechendes Strafurteil an und Art. 103 Abs. 3 GG verleiht diesem Vertrauensschutz Verfassungsrang.
BVerfG, Urt. v. 31.10.2023 – 2 BvR 900/22 (amtl. Leitsätze)
I. Neuregelung des § 362 Nr. 5 StPO
Durch das „Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit” v. 21.12.2021 (BGBl I, S. 5252) ist Ende 2021 in § 362 StPO eine neue Nr. 5 eingefügt worden. Danach kann bei bestimmten schweren Delikten, wie z.B. Mord, das Strafverfahren, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, auch zuungunsten des Verurteilten wieder aufgenommen werden. Um diese Änderung, die u.a. auf die Bemühungen der Angehörigen eines Mordopfers zurückgegangen sind – Stichwort: Frederike von Möhlmann, hatte es vorab und im Gesetzgebungsverfahren erheblichen Streit gegeben. Letztlich haben dann aber Bundestag und Bundesrat die Neuregelung gebilligt bzw. den Vermittlungsausschuss nicht angerufen (vgl. BR-Drucks 622/21). Auch der Bundespräsident hat dann zwar, nachdem das Gesetz den Bundesrat am 17.9.2021 passiert hatte, noch länger mit der Ausfertigung gezögert. Das Gesetz ist dann aber schließlich am 30.12.2021 in Kraft getreten.
II. Ausgangsfall
Schon alsbald nach ihrem Inkrafttreten ist die Regelung (erstmals) angewendet worden. Und zwar in dem Verfahren „Frederike von Möhlmann”, in dem der Angeklagte 1983 vom Vorwurf des Mordes und der Vergewaltigung des 17 Jahre alten Opfers im Jahr 1981 rechtskräftig freigesprochen worden war. Erst 2012 konnte in diesem Verfahren aufgefundenes Spurenmaterial, und zwar DNA-Spuren, dem Angeklagten zugeordnet werden. Die Staatsanwaltschaft hat auf der Grundlage der Neuregelung die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Angeklagten hinsichtlich des Mordvorwurfs und den Erlass eines Haftbefehls beantragt. Das LG hat die Wiederaufnahme gestützt auf § 362 Nr. 5 StPO für zulässig erklärt und einen Haftbefehl erlassen. Das OLG Celle (Beschl. v. 20.4.2022 – 2 Ws 62/22 u. 2 Ws 86/22, u.a. StraFo 2022, 245 = StRR 5/2022, 21 m. Anm. Deutscher) hat die hiergegen erhobenen Rechtsmittel mit umfangreicher Begründung verworfen. Auf die dagegen erhobene Verfassungsbeschwerde des Angeklagten hat das BVerfG diese Beschlüsse aufgehoben und die zugrunde liegende Norm des § 362 Nr. 5 StPO für verfassungswidrig und nichtig erklärt (Urt. v. 31.10. 2023 – 2 BvR 900/22).
III. Begründung des BVerfG
1. Verstoß gegen Art. 103 Abs. 3 GG (ne bis in idem)
Nach Auffassung des BVerfG verstößt § 362 Nr. 5 StPO gegen Art. 103 Abs. 3 GG. Dieses grundrechtsgleiche Recht verbietet dem Gesetzgeber die Regelung der Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zum Nachteil des Grundrechtsträgers aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel. Damit sei § 362 Nr. 5 StPO nicht vereinbar.
Der Grundsatz des Art. 103 Abs. 3 GG, dass niemand wegen derselben Tat mehrmals bestraft werden darf (ne bis in idem), beschreibe das Prinzip des Strafklageverbrauchs, das Strafgerichte und Strafverfolgungsorgane als Verfahrenshindernis von Amts wegen in jedem Stadium des Strafverfahrens zu beachten haben. Es handle sich um ein verfassungsrechtliches Verbot. Der gewährte Schutz stehe bereits der erneuten Strafverfolgung entgegen. Er entfalte gegenüber dem Gesetzgeber keine andere Wirkung, wenn dieser die gesetzlichen Voraussetzungen für eine erneute Strafverfolgung durch die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens schaffe. Das Verbot mehrfacher Strafverfolgung wäre praktisch wirkungslos, wenn die einfachgesetzliche Ausgestaltung als Wiederaufnahmeverfahren eine erneute Strafverfolgu...