I. Hinweise
1. Empfehlungen der BMJV-Expertenkommission
Im Juli 2014 hatte die vom BMJV eingesetzte Expertenkommission zur "Effektivierung des Strafverfahrens" ihre Arbeit aufgenommen. Inzwischen hat sie im Oktober 2015 ihre "Empfehlungen" abgegeben (vgl. dazu ZAP Anwaltsmagazin 21/2015, S. 1110 und den auf der Homepage des BMJV eingestellten Abschlussbericht nebst Protokollen aus den Kommissionssitzungen und der von den Mitgliedern vorgelegten Gutachten). Die Empfehlungen enthalten u.a. Vorschläge, die, wenn sie umgesetzt werden, die Rolle der Verteidigung im Ermittlungsverfahren stärken. Zudem ist ein Ausbau der Möglichkeiten, Vernehmungen audiovisuell, auch in der Hauptverhandlung, aufzunehmen, vorgesehen (zu allem auch Kasiske NJW Spezial 2015, 696).
2. Opferschutzrichtlinie 2012/29/EU
Seit dem 16.11.2015 gelten EU-weit für Opfer von Straftaten verbindliche, harmonisierte Rechte. An diesem Tag ist die Umsetzungsfrist für die Opferschutzrichtlinie 2012/29/EU abgelaufen. Die Opferrechte gelten unabhängig von der Staatsangehörigkeit für jeden, der in der EU Opfer einer Straftat geworden ist. Familienangehörige von Personen, die infolge einer Straftat zu Tode kamen, genießen nach der Richtlinie dieselben Rechte wie die Opfer selbst, einschließlich des Rechts auf Information, Unterstützung und Entschädigung. Die nationalen Behörden müssen den Opfern Informationen über ihre Rechte, ihren Fall und die verfügbaren Dienste und Unterstützungsleistungen zur Verfügung stellen, sobald sich die Opfer das erste Mal an sie wenden. Im Strafverfahren haben Opfer das Recht, gehört und über die einzelnen Abschnitte des Verfahrens informiert zu werden. Sie können insbesondere die Überprüfung einer Entscheidung über den Verzicht auf Strafverfolgung verlangen, wenn sie mit der Entscheidung nicht einverstanden sind.
Hinweis:
In Deutschland soll die Richtlinie u.a. durch Änderungen bzw. Einfügungen, wie z.B. einen neuen § 48 Abs. 3 StPO, durch das 3. Opferrechtsreformgesetz umgesetzt werden. Dieses befindet sich noch im Gesetzgebungsverfahren (vgl. BT-Drucks. 18/4612). Solange das Gesetz jedoch nicht beschlossen ist und die Änderungen in Kraft getreten sind, findet die Richtlinie ab sofort direkt Anwendung.
II. Ermittlungsverfahren
1. Pflichtverteidigungsfragen
a) Eigenes Antragsrecht des Beschuldigten
In Rechtsprechung und Literatur ist die Frage, ob dem Beschuldigten im Ermittlungsverfahren ein eigenes Recht zusteht, die Bestellung eines Pflichtverteidigers zu beantragen, umstritten (vgl. Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 7. Aufl. 2015, Rn. 3051 m.w.N.; im Folgenden kurz: Burhoff, EV). Zu der Frage hat jetzt vor kurzem (noch einmal) die Ermittlungsrichterin des BGH (Beschl. v. 9.9.2015 – 3 BGs 134/15, NJW 2015, 3383 = StRR 2015, 458) Stellung genommen. Die Ermittlungsrichterin verneint kategorisch ein Antragsrecht des Beschuldigten auf Pflichtverteidigerbestellung gem. § 141 Abs. 3 S. 1–3 StPO. Eine solche setze einen Antrag der Staatsanwaltschaft zwingend voraus. Damit bezieht die Ermittlungsrichterin eine klare Position in der heftig umstrittenen Frage. Begründet wird das mit dem Wortlaut des § 141 Abs. 3 StPO und den Zuständigkeitsregelungen (abl. Barton StRR 2015, 459 in der Anm. zu BGH, a.a.O.) und dem Argument, dass die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren "Herrin des Verfahrens" sei, sie zur Objektivität verpflichtet sei und werde daher schon ggf. einen Antrag stelle, da sie ggf. nach § 141 Abs. 3 S. 2 StPO tätig werden müsse.
Ob dieses Argument heute noch zutrifft, kann man m.E. bezweifeln, wenn man manche Verfahren sieht und auch hört, wie von der Staatsanwaltschaft agiert wird. M.E. stellt man den Beschuldigten durch die Verneinung eines eigenen Antragsrechts in der Phase des Ermittlungsverfahrens auch schutzlos in dem Fall, in dem die Staatsanwaltschaft nicht tätig wird, aber tätig werden müsste. Denn dieser hat, wenn sein Bestellungsantrag unzulässig wird, kein Rechtsmittel gegen eine Entscheidung der Staatsanwaltschaft bzw. kann nicht (gerichtlich) überprüfen lassen, wenn diese nicht nach § 142 Abs. 3 S. 2 StPO tätig wird. So ausdrücklich die Ermittlungsrichterin im BGH-Beschluss vom 9.9.2015 (a.a.O.), indem sie insbesondere auch den Weg über § 98 Abs. 2 StPO verneint.
Hinweis:
Wie geht der Verteidiger mit der Entscheidung um? Nun, sie ist m.E. nicht der Weisheit letzter Schluss, da sie "nur" vom Ermittlungsrichter kommt. Jedenfalls ist aber die Diskussion wieder eröffnet und man darf gespannt sein, wie sich ggf. demnächst die Senate positionieren. Als Verteidiger muss man für den Mandanten ein Antragsrecht reklamieren und den Antrag stellen. Die Rechtsprechungsnachweise in der Entscheidung (vgl. u.a. LG Heilbronn Justiz 1979, 444; LG Erfurt StRR 2012, 266; LG Limburg StV 2013, 625 = StRR 2013, 106 m. Anm. Burhoff) zeigen, dass die Instanzgerichte das teilweise anders gesehen haben als der BGH (s.a. BGHSt 46, 93; BGH StV 2008, 58).
b) Rückwirkende Bestellung/Beiordnung
In der Praxis spielt die Frage der Zulässigkeit einer nachträglichen Beiordnung eines Beistands bzw. der Bestellung eines Pflichtverteidigers, wenn das Verfahren rechtkräftig abgeschlossen ist, eine große Rolle. In der Frage, gehen die Oberge...