Zuletzt wurde im Jahr 2019 über aktuelle Rechtsprechung zu Haftfragen berichtet. An die Zusammenstellung schließt die nachfolgende Rechtsprechungsübersicht an (vgl. i.Ü. eingehend zu den mit den Untersuchungshaftfragen zusammenhängenden Problemen Burhoff/Burhoff, EV, Rn 2556 ff., 4461 ff.).

  • Außervollzugsetzung des Haftbefehls, Allgemeines:

    Wird die Aussetzung des Vollzugs eines Haftbefehls durch den Ermittlungsrichter auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft aufgehoben und der Haftbefehl damit wieder in Vollzug gesetzt, ist der Beschuldigte unverzüglich nach seiner erneuten Festnahme gem. § 115 Abs. 1 StPO dem zuständigen Gericht vorzuführen. Nichts anderes kann vor dem Hintergrund der in Art. 104 Abs. 3 S. 1 GG getroffenen Regelung für den Fall gelten, dass ein zunächst ausgesetzter Haftbefehl durch das Beschwerdegericht wieder in Vollzug gesetzt wird (OLG Nürnberg, Beschl. v. 11.8.2021 – Ws 735/21). Der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Außervollzugsetzung des Haftbefehls im Ermittlungsverfahren hat keine Bindungswirkung für den Haftrichter. § 120 Abs. 3 StPO ist nicht entsprechend anwendbar (OLG Celle, Beschl. v. 17.5.2021 – 2 Ws 145/21).

  • Außervollzugsetzung des Haftbefehls, Widerruf, Voraussetzungen:

    Neu hervorgetretene Umstände i.S.d. § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO rechtfertigen die Wiederinvollzug-setzung eines Haftbefehls dann, wenn sie zu einer Straferwartung führen, die von der Prognose des Haftrichters zum Zeitpunkt der Außervollzugsetzung erheblich zum Nachteil des Angeklagten abweicht, und sich nach einer Abwägung aller Umstände des Einzelfalls ergibt, dass sich die Fluchtgefahr durch die Abweichung ganz wesentlich erhöht (OLG Celle, Beschl. v. 26.3.2021 – 2 Ws 82/21, StV 2021, 600 [Ls.]; KG, Beschl. v. 29.10.2021 – 2 Ws 114/21). Stand aber dem Angeklagten die Möglichkeit einer für ihn nachteiligen Änderung der Prognose während der Außervollzugsetzung des Haftbefehls stets vor Augen und kam er gleichwohl allen Auflagen beanstandungsfrei nach, kommt der erneute Vollzug des Haftbefehls nicht in Betracht (KG, Beschl. v. 29.10.2021 – 2 Ws 114/21).

  • Beschleunigungsgebot, Allgemeines:

    Das Gewicht des Freiheitsanspruchs vergrößert sich gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung regelmäßig mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft (BVerfG, Beschl. v. 1.4.2020 – 2 BvR 225/20; BGH, Beschl. v. 13.4.2021 – AK 29/21, StV 2021, 595 [Ls.]). Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und Sicherstellung der Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare justizseitige Verzögerungen verursacht ist (OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 10.7.2019 – 1 HEs 215-217/19; OLG Hamm, Beschl. v. 15.9.2022 – 5 Ws 243/22, StRR 11/2022, 36). Ein – benannter oder unbenannter – wichtiger Grund rechtfertigt die Haftfortdauer nur, wenn alle zumutbaren Maßnahmen zur Beschleunigung ergriffen worden sind. Für die Beurteilung dieser Frage ist die Bearbeitungsweise normaler Kriminalbeamter, Staatsanwälte und Richter zugrunde zu legen (KG, Beschl. v. 25.1.2021 – (4) 121 HEs 2/21 (2 + 3/21), StV 2021, 600 [Ls.]). Eine Verursachung durch vermeidbare Verzögerungen soll indes dann nicht vorliegen, wenn die Verzögerung auch dann – durch nicht justizseitig verursachte Umstände – eingetreten wäre, wenn das Gericht das Verfahren hinreichend gefördert hätte (OLG Hamm, Beschl. v. 15.9.2022 – 5 Ws 243/22, StRR 11/2022, 36), was m.E. zweifelhaft ist. Der Beschleunigungsgrundsatz für Haftsachen ist verletzt, wenn eine eingetretene Verzögerung allein mit der Überlastung des Gerichts begründet wird (BVerfG, Beschl. v. 1.4.2020 – 2 BvR 225/20). Dies gilt v.a., wenn der hohe Geschäftsanfall nicht unvorhersehbar kurzfristig eingetreten und nicht nur von vorübergehender Dauer ist und ihm nicht durch geeignete gerichtsorganisatorische Maßnahmen der Justiz begegnet worden ist (OLG Zweibrücken, Beschl. v. 17.8.2021 – 1 Ws 188/21 und 1 Ws 202/21).

  • Beschleunigungsgebot, COVID-19-Pandemie:

    Einen wichtigen Grund i.S.d. § 121 Abs. 1 StPO bilden u.a. nicht behebbare und unabwendbare Schwierigkeiten oder unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse, wie etwa die krankheitsbedingte Verhinderung unentbehrlicher Verfahrensbeteiligter. Auch die Erkrankung eines Verfahrensbeteiligten mit einer hochansteckenden Krankheit, die an sich keinen Hinderungsgrund darstellt, aber eine erhebliche Gefährdung anderer in sich birgt, kann einen solchen Grund darstellen (OLG Stuttgart, Beschl. v. 6.4.2020 – H 4 Ws 71/20 für die COVID-19-Pandemie und darauf beruhende Quarantäne-Maßnahmen; zur Rechtfertigung der Haftfortdauer bei Verfahrensverzögerungen durch die COVID-19-Pandemie OLG Braunschweig, Beschl. v. 25.3.2020 – 1 Ws 47/20; OLG Jena, Beschl. v. 30.4.2020 – 1 Ws 146/20; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 30.3.2020 – HEs 1 Ws 84/20).

  • Beschleunigungsgebot, Ermittlungsverfahren:

    Die Aufrechterhaltung einer über sieben Monate andauernden Untersuchungshaft ist nicht mehr gerechtfertigt, wenn bei an...

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