Mit Urt. v. 28.3 2023 (9 AZR 588/21, NZA 2023, 866) hatte der Neunte Senat des BAG über die Abgeltung von (Mehr-)Urlaubsansprüchen i.H.v. 1.509,08 EUR brutto zu entscheiden. Auf das Arbeitsverhältnis fanden der TV-L Anwendung. Durch Erlass des Finanzministeriums des Landes Schleswig-Holstein wurde der Urlaub entsprechend der Regelung für Beamte abweichend vom BUrlG bis 30.9. des Folgejahres übertragen. Die schwerbehinderte Klägerin war von Juli 2019 bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Januar 2021 arbeitsunfähig erkrankt. Im Jahr 2019 wurden der Klägerin antragsgemäß 17 Tage Urlaub gewährt. Am 12.6.2020 schrieb das beklagte Land:
Zitat
„Sie haben derzeit noch 18 Urlaubstage aus dem Urlaubsjahr 2019, die in das laufende Urlaubsjahr übertragen wurden und die Sie noch nicht beantragt haben. Ich weise Sie darauf hin, dass dieser übertragene Urlaub spätestens bis einschließlich 30.9.2020 abgewickelt sein muss. Übertragener Urlaub, den Sie nicht rechtzeitig vor dem 1.10.2020 genommen haben, verfällt am 1.10.2020.”
Acht Tage Urlaub galt das beklagte Land bei Beendigung ab. Die Klägerin verlangt die Abgeltung der restlichen zehn Urlaubstage des Jahres 2019. Das LAG hat der Klage stattgegeben.
Das BAG wies die Revision des beklagten Landes zurück. Der Verfall des 35-tägigen Urlaubsanspruchs richte sich allein nach dem TV-L sowie dem Erlass des Finanzministeriums. Mit der Urlaubsgewährung von 17 Arbeitstagen und Abgeltung von acht Urlaubstagen für das Jahr 2019 habe die Beklagte die Ansprüche auf den gesetzlichen Mindesturlaub (20 Arbeitstage) sowie den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen (5 Arbeitstage) getilgt. Offen war damit der tarifvertragliche Mehrurlaub i.H.v. zehn Arbeitstagen. Stehen dem Arbeitnehmer im Kalenderjahr auf unterschiedlichen Anspruchsgrundlagen beruhende Erholungsurlaubsansprüche zu, für die unterschiedliche Regelungen gelten, handelt es sich um selbstständige Urlaubsansprüche. Deshalb ist § 366 BGB anzuwenden, wenn die Urlaubsgewährung durch den Arbeitgeber nicht zur Erfüllung sämtlicher Urlaubsansprüche ausreicht und der Arbeitgeber – wie vorliegend – keine Tilgungsbestimmung i.S.v. § 366 Abs. 1 BGB vorgenommen hat. Nach der jüngsten Rspr. des Neunten Senats ist dann die in § 366 Abs. 2 BGB vorgegebene Tilgungsreihenfolge mit der Maßgabe heranzuziehen, dass zuerst gesetzliche Urlaubsansprüche und nachfolgend die den gesetzlichen Mindesturlaub übersteigenden (Mehr-)Urlaubsansprüche erfüllt werden.
Da die Tilgungsbestimmung „bei Leistung” also der Gewährung des Urlaubs getroffen werden muss, kommt eine nachträgliche Tilgungsbestimmung – wie durch das Schreiben im Jahr 2020 – nicht in Betracht.
Der tarifliche Mehrurlaub im Umfang von zehn Arbeitstagen ist auch nicht verfallen. Die Beklagte hat ihre Mitwirkungsobliegenheit nicht vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit der Klägerin erfüllt. Sie hat die Klägerin nicht rechtzeitig in die Lage versetzt, diesen Anspruch auszuüben. Insbesondere ist auch keine förmliche Aufforderung, den Urlaub zu nehmen, erfolgt. Das Schreiben aus dem Jahr 2020 reiche auch insoweit nicht aus.
Hinweise:
- Der Neunte Senat bestätigt seine Rechtsprechung (BAG, Urt. v. 1.3.2022 – 9 AZR 353/21, NZA 2022, 911) zur Tilgungsbestimmung verschiedener Urlaubsansprüche und setzt diese fort: (1) Eine Tilgungsbestimmung ist bei Urlaubsgewährung vorzunehmen. (2) Sie kann nicht nachgeholt oder nachträglich geändert werden. (3) Nach § 366 Abs. 2 BGB in der Auslegung des Gerichts werden zuerst die gesetzlichen Urlaubsansprüche (Mindesturlaub und Zusatzurlaub nach § 208 SGB IX) erfüllt, dann ein etwaiger tarifvertraglicher oder arbeitsvertraglicher Mehrurlaubsanspruch.
- Das beklagte Land muss die Mitwirkungsobliegenheit ordnungsgemäß erfüllen, soll der Urlaubsanspruch nach Ablauf des Übertragungszeitraums in Folge wirksamer Befristung erlöschen. Das scheiterte vorliegend aus zwei Gründen: (1) Das Schreiben erfolgt nach Erkrankung der Klägerin, also zu einem Zeitpunkt zu welchem die Erfüllung fortdauernd ausgeschlossen war. (2) Rechtzeitig wäre die Erfüllung nur mit Ablauf des sechsten Werktags des Jahres gewesen. (3) Auch der Wortlaut war zu zurückhaltend („Ich weise Sie darauf hin, dass dieser übertragene Urlaub spätestens bis einschließlich 30.9.2020 abgewickelt sein muss”); Es fehlte die förmliche Aufforderung zur Urlaubsnahme.
- Zinsen sind nach der st. Rspr. des BAG erst am Tag nach Eintritt des Verzugs zu bezahlen.