I. Einführung und Ziele des § 164 SGB IX
Die Norm des § 164 SGB IX ist eine der wichtigsten im SGB IX, da sie die Chancen und die Teilhabe schwerbehinderter Menschen im Erwerbsleben regelt. Die Norm wirkt auf den ersten Blick recht unübersichtlich, sodass hier jeweils aus der Perspektive des Arbeitgebers und des Arbeitnehmers, aber auch der Schwerbehindertenvertretung (SBV) und des Betriebsrats (BRs) nicht nur die Pflichten, sondern auch die Handlungsmöglichkeiten dargestellt werden sollen.
Durch das BTHG (Bundesteilhabegesetz) vom 23.12.2016 wurde die Struktur des SGB IX geändert. Die Ansprüche auf Beschäftigung und das Benachteiligungsverbot sind nun im Teil 3, §§ 154 ff. SGB IX unter "Besondere Regelungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen" geregelt. Den Anspruch gibt es in dieser Form seit dem 1.1.2008. Er entspricht dem früheren § 81 SGB IX, auf den sich noch viele der zitierten Fundstellen, insb. der Rechtsprechung, beziehen. Inhaltlich existiert die Regelung bereits seit dem 1.7.2001.
In der anwaltlichen Beratungspraxis wird sie entweder gar nicht oder nur am Rande berücksichtigt. Auch ist die detaillierte Kenntnis insb. im Arbeitnehmer- bzw. SBV-/Betriebsratsmandat von Vorteil, wenn es um die prozessuale Durchsetzung geht. Erst in letzter Zeit hat das Thema der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen an Bedeutung zugenommen, auch im Hinblick auf die gestärkten Teilhaberechte und die Antidiskriminierung von behinderten Menschen sowie als Mittel gegen den vielfach beklagten Facharbeitermangel (eingehend dazu Düwell, LPK-SGB IX zu § 164, Rn 4–8).
Die Kernziele des § 164 SGB IX sind sowohl die Beschäftigungsförderung, die Beschäftigungssicherung als auch die Durchsetzung des Benachteiligungsverbots von schwerbehinderten Menschen. Diese Ziele werden verstärkt sowohl durch Individualansprüche des schwerbehinderten Menschen, insb. nach § 164 Abs. 4 und 5 SGB IX, als auch durch Beteiligungsrechte der SBV, des BR und der Bundesagentur für Arbeit (BA für Arbeit).
Kerninhalt/Struktur des § 164 SGB IX:
Abs. 1 |
- Organisationspflicht für Arbeitgeber bei Stellenbesetzung,
- Kooperation mit der BA für Arbeit,
- Beteiligung von SBV und Anhörung von BR/Personalrat
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Abs. 2 |
- Benachteiligungsverbot für Arbeitgeber,
- Verweis auf AGG
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Abs. 3 |
- Pflicht für Arbeitgeber, die Mindestquote schwerbehinderter Menschen (dauerhaft) zu erfüllen
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Abs. 4 |
- Beschäftigungsanspruch des schwerbehinderten Menschen gegenüber dem Arbeitgeber,
- behinderungsgerechte Einrichtung und Unterhaltung der Arbeitsstätten,
- behinderungsgerechte Gestaltung der Arbeitsplätze/Umfeld,
- behinderungsgerechte Arbeitsorganisation/Arbeitszeit,
- Ausstattung des Arbeitsplatzes mit erforderlichen technischen Arbeitshilfen,
- Unterstützung des Arbeitgebers durch BA für Arbeit und Integrationsamt,
- Grenze für Arbeitgeber, Zumutbarkeit und Aufwand
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Abs. 5 |
- Pflicht des Arbeitgebers zur Einrichtung von Teilzeitarbeitsplätzen sowie Anspruch des schwerbehinderten Menschen auf Teilzeitbeschäftigung, wenn wegen Art der Behinderung notwendig
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Für öffentliche Arbeitgeber gelten nicht nur die Pflichten des § 154 i.V.m. § 164 SGB IX, sondern weitergehende Pflichten, wie die Meldepflicht an die BA für Arbeit und die Pflicht zur Einladung eines schwerbehinderten Menschen zu einem Vorstellungsgespräch (vgl. § 165 SGB IX).
II. Anwendungsbereich für Arbeitgeber und Arbeitnehmer
Die Pflichten des § 164 SGB IX gelten grds. für alle Arbeitgeber, also auch diejenigen, die nicht unter das KSchG fallen, soweit sich aus dem Wortlaut nicht etwas anderes ergibt.
Umgekehrt gilt die Vorschrift für alle schwerbehinderten Menschen. Es findet keine Begrenzung auf Arbeitnehmer im klassischen Sinne nach § 611a BGB statt. Denn der Maßstab ist hier allein § 2 Abs. 2 SGB IX. Dieser setzt zumindestens einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 oder höher voraus. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass der Behindertenbegriff europarechtskonform (RL 2000/78/EG) weit auszulegen ist, sodass auch behinderte Menschen mit einem GdB von mindestens 30 (gleichgestellt i.S.v. § 2 Abs. 3 SGB IX) darunterfallen (vgl. Fabricius in juris-PK, 3. Aufl. zu § 164 Rn 9; Düwell in LPK SGB IX zu § 164 Rn 20; BAG, Urt. v. 3.4.2017 – 9 AZR 823/06; BAG, Urt. v. 18.11.2008 – 9 AZR 643/07).
III. Arbeitgeberperspektive
1. Organisationspflicht, § 164 Abs. 1 SGB IX
§ 164 Abs. 1 ist als Organisationspflicht für den Arbeitgeber ausgestaltet. Danach ist der Arbeitgeber verpflichtet, vor jeder Stellenbesetzung zu prüfen, ob freie Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen besetzt werden können. Dabei ist die BA für Arbeit einzubinden, diese kann als arbeitslos oder als arbeitssuchend gemeldete schwerbehinderte Menschen dem Arbeitgeber vorschlagen. Weiter hat der Arbeitgeber die SBV bzw. die in § 176 SGB IX genannten Vertretungen, insb. den BR, einzubeziehen.
Hieraus lässt sich aber keine unmittelbare Einstellungspflicht eines schwerbehinderten Menschen für den Arbeitgeber ableiten, sondern lediglich eine mittelbare Pflicht, indem der Arbeitgeber Maßnahmen ergreifen muss, um wenigstens die Mindestbeschäftigungsquote zu erreichen (vgl. Düwell, LPK SGB IX zu § 164 Rn 103/104).
Prüfungsreihenfolge für den Arbeitgeber:
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