Änderungen im Überblick:
- Norm: § 136 Abs. 4 StPO
- Sachlicher Geltungsbereich: Vernehmungen
- Verteidigerstrategie: Gegebenenfalls Beweisverwertungsverbot (vgl. II 4)
1. Neuregelung
§ 136 Abs. 4 StPO erweitert die Möglichkeiten der audiovisuellen Aufzeichnung von Beschuldigtenvernehmungen. Diese war bislang über § 163a Abs. 1 S. 2 StPO a.F., der auf die §§ 58a Abs. 1 S. 1, Abs. 2 und 3, 58b StPO verwiesen hat, sowohl bei richterlichen als auch bei staatsanwaltschaftlichen oder polizeilichen Vernehmungen möglich. Daran hält § 136 Abs. 4 S. 1 StPO zwar fest. In § 136 Abs. 4 S. 2 StPO wird jedoch nun die Verpflichtung der Ermittlungsbehörden zur audiovisuellen Aufzeichnung in bestimmten Verfahren oder besonderen Konstellationen geregelt (vgl. dazu II 3). Die frühere Verweisung in § 163a Abs. 2 S. 2 StPO a.F. konnte damit entfallen (vgl. BT-Drucks 18/11277, S. 32).
Hinweis:
Der Beschuldigte kann aufgrund der aus dem Nemo-Tenetur-Grundsatz folgenden Freiheit, sich nicht selbst belasten zu müssen, die Aussage verweigern. Über sein Recht zu schweigen kann er sich somit auch einer audiovisuellen Aufzeichnung entziehen.
Sinn und Zweck/Ziel der Erweiterung der audiovisuellen Dokumentationsmöglichkeiten von Beschuldigtenvernehmungen ist in erster Linie eine Verbesserung der Wahrheitsfindung. Insoweit zutreffend weist die Gesetzesbegründung (BT-Drucks 18/11277, S. 24 f.) darauf hin, dass eine Videoaufzeichnung den Verlauf einer Vernehmung authentisch(er) wiedergibt und daher dem herkömmlichen schriftlichen Inhaltsprotokoll überlegen ist.
2. Regelungsinhalt
a) Allgemeines
Die audiovisuelle Aufzeichnung von Beschuldigtenvernehmungen ist wie folgt geregelt (vgl. auch Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2019, § 136 Rn 19a):
- § 136 Abs. 4 S. 1 StPO enthält die schon früher auf der Grundlage der "Kann-Vorschrift" der §§ 163a Abs. 1, 58a Abs. 1 S. 1 StPO a.F. für – polizeiliche und staatsanwaltliche – Beschuldigtenvernehmungen geltende Ermessensregelung. Danach kann grds. (jede) Vernehmung des Beschuldigten in Bild und Ton aufgezeichnet werden (vgl. BT-Drucks 18/11277, S. 26).
- Nach § 136 Abs. 4 S. 2 Nr. 1 StPO muss die Vernehmung aufgezeichnet werden muss, wenn dem Ermittlungsverfahren ein vorsätzlich begangenes Tötungsdelikt zugrunde liegt und der Aufzeichnung weder die äußeren Umstände noch die besondere Dringlichkeit der Vernehmung entgegenstehen.
- § 136 Abs. 4 S. 2 Nr. 2 StPO bestimmt darüber hinaus eine generelle Aufzeichnungspflicht, wenn die schutzwürdigen Interessen des Beschuldigten durch die Aufzeichnung besser gewahrt werden können.
Hinweis:
§ 136 Abs. 4 StPO gilt unmittelbar nur für richterliche Beschuldigtenvernehmungen. Er wird aber über die Verweise in § 163a Abs. 3 und 4 StPO auf staatsanwaltschaftliche und polizeiliche Beschuldigtenvernehmungen entsprechend angewendet.
b) Generalklausel (§ 136 Abs. 4 S. 1 StPO)
§ 136 Abs. 4 S. 1 StPO enthält die "Generalklausel" für die audiovisuelle Aufzeichnung von (richterlichen) Beschuldigtenvernehmungen. Danach steht die Aufzeichnung der Vernehmung in Bild und Ton im Ermessen – "kann" – des Vernehmenden. Das entspricht der bisherigen Regelung in § 163a Abs. 1 S. 2 StPO a.F. mit Verweis auf §§ 58a, 58b StPO. Für die Anordnung gelten die für die Anordnung einer audiovisuellen Zeugenvernehmung nach § 58a Abs. 1 S. 1 StPO geltenden Überlegungen entsprechend (vgl. dazu Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 8. Aufl., 2019, Rn 4786 ff. [im Folgenden kurz: Burhoff, EV]).
Voraussetzung für die Zulässigkeit der Aufzeichnung ist, dass es sich um eine Vernehmung i.e.S. handelt (zum Begriff Burhoff, EV, Rn 4384 ff.). Das schließt die Aufzeichnung von bloß informatorischen Anhörungen usw. aus (zum Umfang der Aufzeichnung s. unten II 3 b). Die Zulässigkeit der Aufzeichnung hängt nicht vom Einverständnis des Beschuldigten ab. Dieser muss den Eingriff in sein Persönlichkeitsrecht (vgl. oben I) dulden. Er kann eine Bild-Ton-Aufzeichnung grds. nur dadurch vermeiden, dass er sich weigert, Angaben zur Sache zu machen.
Hinweis:
Zulässig ist es aber, dass sich der Beschuldigte und der Vernehmungsbeamte darüber einigen, dass der Beschuldigte nicht von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch macht und dafür der Vernehmungsbeamte auf die audiovisuelle Dokumentation der Vernehmung verzichtet.
c) Vorsätzliche Tötungsdelikte (§ 136 Abs. 4 S. 2 Nr. 1 StPO)
Nach § 136 Abs. 4 S. 2 Nr. 1 StPO besteht eine Pflicht zur Aufzeichnung – "Sie ist aufzuzeichnen ..." – bei vorsätzlichen Tötungsdelikten. Grund für die in diesen Fällen vorgesehene Aufzeichnungspflicht ist der Umstand, dass bei diesen äußerst schwerwiegenden Delikten, bei denen i.d.R. hohe Freiheitsstrafen drohen, das staatliche Interesse an einer bestmöglichen Wahrheitsfindung ebenso schwer wiegt wie das Interesse des einer solchen Tat verdächtigten Beschuldigten (BT-Drucks 18/11277, S. 25).
Der Begriff der "vorsätzlichen Tötungsdelikte" umfasst
- die Delikte der §§ 211 bis 221 StGB im Falle einer vorsätzlichen Begehungsweise sowohl im Stadium des Versuchs als auch der Vollendung.
- erfolgsqualifizierte Delikte, sofern der Vorsatz auch auf den Eintritt der schweren Folge gerichtet war; i...