Der Erwerb einer Fachanwaltsbezeichnung setzt nach § 2 Abs. 1 FAO einen Nachweis über den Erwerb besonderer theoretischer Kenntnisse (§ 4 FAO) und besonderer praktischer Erfahrungen (§ 5 FAO) voraus. Um diese Erfahrungen erwerben zu können, muss der Antragsteller nach § 5 Abs. 1 S. 1 FAO innerhalb der letzten drei Jahre vor der Antragstellung je nach Rechtsgebiet eine variierende Anzahl an Fällen und gerichtlichen Verfahren als Rechtsanwalt persönlich und weisungsfrei bearbeitet haben. Die persönliche Bearbeitung setzt nach ständiger Rechtsprechung des BGH voraus, dass sich der Rechtsanwalt – namentlich durch Anfertigung von Vermerken und Schriftsätzen oder die Teilnahme an Gerichts- und anderen Verhandlungen – selbst mit der Sache inhaltlich befasst hat. Demgegenüber soll, wie der BGH nunmehr entschieden hat, eine bloß untergeordnete, unterstützende Zuarbeit nicht ausreichen. Davon sei auszugehen, wenn ein Antragsteller nur eng umgrenzte Teilaspekte eines Falls bearbeitet, keinen eigenen Schriftsatz angefertigt und auch nicht an einer Gerichtsverhandlung teilgenommen hat (BGH, Beschl. v. 19.4.2022 – AnwZ [Brfg] 1/22, ZAP EN-Nr. 026/2023 [Ls.] m. Anm. Uekermann, AnwBl Online 2022, 513). In diesem Fall hatte eine Anwältin bei der für sie zuständigen Kammer einen Antrag auf Verleihung der Bezeichnung „Fachanwältin für Vergaberecht” gestellt, der jedoch mit der Begründung abgelehnt wurde, dass es in einzelnen ihrer Handakten zu gerichtlichen Verfahren keine nennenswerten Anzeichen für eine über ein Wirken im Hintergrund hinausgehende Fallbearbeitung gebe. Auch die anwaltlichen Bestätigungen der die Schriftsätze unterzeichnenden Rechtsanwälte würden die Nachweislücken nicht schließen. Bereits der AGH Rheinland-Pfalz hatte die Kammer aber dazu verpflichtet, den streitigen Fachanwaltstitel dennoch zu verleihen (AGH Rheinland-Pfalz, Urt. v. 16.11.2021 – 2 AGH 5/20). Diese Entscheidung wurde durch den BGH bestätigt. Im Einzelfall sei zwar eine Abgrenzung zwischen einer persönlichen Fallbearbeitung und einem bloßen Wirken im Hintergrund nicht immer möglich, insb. wenn der antragstellende Rechtsanwalt die zum Nachweis eingereichte Schriftsätze nicht selbst unterzeichnet hat und auch kein entsprechendes Diktatzeichen vorhanden sind. Zu berücksichtigen seien i.R.d. Nachweises der persönlichen Bearbeitung in der Form des § 6 FAO aber auch anwaltliche Versicherungen von Kollegen, von denen der Antragsteller Fälle zur eigenständigen persönlichen Bearbeitung erhalten hat. Sofern solche Versicherungen vorliegen, könne der Nachweis einer persönlichen Bearbeitung nicht pauschal mit der Begründung verneint werden, dass Schriftsätze fast ausnahmslos von den mandatierten Rechtsanwälten unter deren Briefkopf unterzeichnet wurden, selbst wenn sich überwiegend keine eindeutig auf die Urheberschaft des Antragstellers hinweisenden Diktatzeichen finden lassen. Der BGH stellte in diesem Zusammenhang auch ausdrücklich klar, dass es für die persönliche Fallbearbeitung i.S.v. § 5 Abs. 1 S. 1 FAO nicht darauf ankomme, dass der Rechtsanwalt in jedem der von ihm gelisteten Fälle nach außen verantwortlich aufgetreten ist. Entscheidend sei vielmehr, ob er sich mit einer Sache inhaltlich befasst hat. Dies bringt für Antragsteller, die zwar der Kammer mangels Unterzeichnung von Schriftsätzen ihre Urheberschaft im Hinblick auf einen durch sie intensiv betreuten Fall nicht zweifelsfrei nachweisen, jedoch eine anwaltliche Versicherung der unterzeichnenden Kollegen vorweisen können, die notwendige Rechtssicherheit (Engel, BRAK-Mitt. 2022, 304, 306), eröffnet aber auch Missbrauchspotenzial.
Das Erfordernis der persönlichen anwaltlichen Bearbeitung war auch Gegenstand einer Entscheidung des AGH NRW (Urt. v. 29.4.2022 – 1 AGH 43/21, m. Anm. Mayer, FD-RVG 2022, 449713). Die beklagte Rechtsanwaltskammer weigerte sich, einer Rechtsanwältin den Fachanwaltstitel für Familienrecht zu verleihen, weil sie schwerpunktmäßig formalisiert einvernehmliche Scheidungen abwickelte. Nach Ansicht der Kammer sei deshalb nicht erkennbar, dass sie selbst die juristische Aufarbeitung des Sachverhalts übernommen habe. Dem widersprach der AGH mit der Begründung, dass in Fällen des formularmäßigen Massengeschäfts die persönliche anwaltliche Leistung darin bestehe, zu erkennen und zu entscheiden, ob sich der vorgetragene Fall für eine formularmäßige Bearbeitung eigne, ob der Formulartext richtig verwendet werde oder ob aufgrund von Besonderheiten ein individueller Antrag formuliert werden müsse.