Der neu gefasste § 144 Abs. 1 StPO ermöglicht die Bestellung von bis zu zwei zusätzlichen Pflichtverteidigern, wenn dies zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens, insb. wegen dessen Umfang oder Schwierigkeit, erforderlich ist. Bereits zuvor war es in der Praxis üblich gewesen, v.a. in Umfangsverfahren weitere Verteidiger zu bestellen. Dies hat der Gesetzgeber nunmehr aufgegriffen. Bei der Auslegung der Vorschrift kann auf die vor der Reform 2019 ergangene Rechtsprechung zur Zulässigkeit der Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers als Sicherungsverteidiger zurückgegriffen werden (BGH, Beschl. v. 31.8.2020 – StB 23/20).
Bislang zeichnet sich ein eher restriktiver Kurs der Rechtsprechung ab. So hat das OLG Hamburg (Beschl. v. 13.1.2020 – 2 Ws 3/20) in einer der ersten zu dieser Thematik ergangenen Entscheidungen ausgeführt, dass die Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers nur in Betracht komme, wenn der’Prozessstoff so schwierig oder so umfangreich sei, dass er nach Ausschöpfung aller Hilfsmittel ausschließlich bei arbeitsteiligem Zusammenwirken zweier Verteidiger beherrscht werden könne oder wenn eine Hauptverhandlung außergewöhnlich lange wäre und deshalb die Wahrscheinlichkeit, ein Verteidiger werde planwidrig verhindert sein, steige, wobei die abstrakt-theoretische Möglichkeit einer späteren Verfahrensgefährdung durch das Ausbleiben eines Verteidigers nicht ausreiche, um schon von Anfang an einen weiteren Verteidiger zu bestellen.
Auch das OLG Celle (Beschl. v. 11.5.2020 – 5 StS 21/20) hat sich, insb. im Hinblick auf den in § 144 Abs. 1 StPO verwendeten Begriff „Umfang oder Schwierigkeit” für eine enge Auslegung ausgesprochen. Der Begriff sei nicht mit der „Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage” in § 140 Abs. 2 StPO gleichzusetzen. Generell müsse die Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers zwar nicht unerlässlich, aber doch notwendig sein (OLG Celle, a.a.O.).
Hinweis:
Diese Anforderungen muss der Verteidiger bei der Formulierung des Antrags auf Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers beachten. Es genügt nicht, dass die Mitwirkung eines weiteren Verteidigers sachgerecht, zweckmäßig oder wünschenswert erscheint, sie muss vielmehr aufgrund konkreter Umstände erforderlich/notwendig sein. Nochmals erhöht werden die Darlegungserfordernisse dadurch, dass das Beschwerdegericht die Beurteilung des Vorsitzenden zur Erforderlichkeit eines zusätzlichen Pflichtverteidigers nur dann beanstanden kann, wenn sie sich nicht mehr im Rahmen des’Vertretbaren hält (BGH, Beschl. v. 31.8.2020 – StB 23/20).
Hiervon ausgehend haben auf den Umfang oder die Schwierigkeit der Sache gestützte Anträge auf Beiordnung weitere Verteidiger wohl allenfalls dann Aussicht auf Erfolg, wenn das Verfahren von deutlich überdurchschnittlicher Komplexität ist. Dies wird etwa bei einem Aktenumfang von fünf Bänden noch nicht der Fall sein (vgl. OLG Celle, a.a.O.).
Darüber orientiert sich die Rechtsprechung bislang auch nicht an § 76 Abs. 3 GVG, der i.d.R. die Mitwirkung eines dritten Berufsrichters verlangt, wenn die Hauptverhandlung länger als zehn Tage dauern wird. Wenngleich nicht in jedem Verfahren, das voraussichtlich eine derartige Dauer haben wird, zwingend ein weiterer Verteidiger erforderlich sein dürfte, erscheint es grds. sachgerecht, sich insb. in umfangreichen Strafsachen hieran zu orientieren. Es vermag nicht recht einzuleuchten, weshalb der Verteidiger ein Verfahren allein bewältigen soll, wenn der Gesetzgeber dies zwei Berufsrichtern nicht zutraut und stattdessen die Mitwirkung eines dritten Richters verlangt.
Hinweis:
Die Beiordnung weiterer Pflichtverteidiger kann auch erforderlich werden, wenn die Teilnahme des bisherigen Verteidigers an der Hauptverhandlung wegen Krankheit nicht gesichert ist (BT-Drucks 19/13829, 49). Dies setzt jedoch die konkrete Gefahr krankheitsbedingter Ausfälle voraus, die bloß theoretische Möglichkeit, der’Verteidiger könne erkranken, genügt nicht. Daher gebietet die Möglichkeit, ein Verteidiger könne sich mit dem Corona-Virus infizieren bzw. einer Quarantäneanordnung unterworfen werden, die Bestellung weiterer Pflichtverteidiger noch nicht (OLG Celle, a.a.O.).