Die ersten Wochen des Jahres 2022 liegen hinter uns. Seit einigen Monaten ist die Ampelkoalition im Amt. Der durch die coronabedingt sich schnell ändernden Lebensumstände geprägte Alltag von Arbeitsleben und Familie fordert uns sehr. Er verleitet dazu, den Blick für den Aufbruch am Beginn eines neuen Jahres und einer neuen Legislaturperiode zu verlieren. Erlauben Sie mir daher, Sie für einige Minuten bei der Lektüre dieser Kolumne auf einen Blick in die nähere und fernere Zukunft mitzunehmen.
Der 177-seitige Koalitionsvertrag enthält bereits zahlreiche Details. Viele davon entsprechen langjährigen Forderungen des Deutschen Anwaltvereins (DAV). Weitere Forderungen haben noch keinen Eingang in den Vertrag gefunden. Sie bleiben gleichwohl berechtigt und ergeben sich auch in der Folge der in der Präambel ausgedrückten Zielsetzungen. Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Stadt und Land – in strukturschwachen und -starken Regionen, die innere Einheit in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht, der Klimaschutz, die Verbesserung und Veränderung von Arbeitsbedingungen, die Umgestaltung der Altersvorsorge zur Sicherung derselben, die Neuordnung von Verfahren zu Flucht und Migration, ein klares Bekenntnis zu Rechtsstaat und Demokratie und nicht zuletzt, die alle Lebensbereiche erfassende digitale Transformation beschreiben nicht nur die Herausforderungen, sondern geben auch die Richtung für angedachte Lösungen vor.
Die Kolumne bietet keinen Raum für einen größeren Überblick, sodass ich nur einige Punkte und Forderungen aufgreife.
Dem Wandel gesellschaftlicher Vorstellungen vom Begriff der Familie, der Aufteilung von Familien- und Erwerbstätigkeit müssen überfällige Reformen im Familienrecht folgen. Diese gehen über die Änderungen des Abstammungsrechts hinaus und erfassen insb. das Recht der Sorge und Betreuung von Kindern und daran anknüpfend auch die finanziellen Folgen geänderter Betreuungsmodelle. Die Reform darf hierbei nicht nur mit dem Unterhaltsrecht die unmittelbar Beteiligten in den Blick nehmen, sondern muss mit der sog. Kindergrundsicherung auf eine umfangreiche Änderung im Kindergeldrecht und weiterer staatlicher kindbezogenen Leistungen abzielen. Dem entspricht die steuerrechtliche Abkehr von den Steuerklassen III/V. Zwölf Jahre nach Einführung des "neuen" Versorgungsausgleichs ist es auch an der Zeit, die Folgen zu evaluieren und strukturelle Defizite zu beseitigen.
Das Verwaltungsverfahrens- und -prozessrecht wird vor dem Hintergrund des zeitlich drängenden Klimaschutzes und des Ausbaus erneuerbarer Energien in besonderer Weise gefordert sein. Individualinteressen mit übergeordneten Zielen in Einklang zu bringen, bedarf einer transparenten Gesetzgebung und Umsetzung, bei der der Blick der Anwaltschaft aus der Praxis in besonderem Maße einzubeziehen ist.
Die Vorstellungen zum Strafrecht überzeugen bei dem klaren Bekenntnis, das Strafrecht nur als ultima ratio zu begreifen. In der Umsetzung dieses Ziel muss das Strafrecht systematisch auf Handhabbarkeit, Berechtigung und Wertungswidersprüche geprüft und "entschlackt" werden. Diese Aufgabe ist dringend anzugehen und darf nicht wegen ihrer Dimension unterbleiben. Straf- und strafprozessrechtliche Regelungen sind zu evaluieren und nach Evidenz zu treffen, nicht nach einzelnen aktuellen Ereignissen. Im Bereich des Verfahrensrechts ist die audiovisuelle Dokumentation der Hauptverhandlung umzusetzen.
Möglichkeiten und Maßnahmen durch die bestehenden und in den vergangenen Jahren stets verschärften Sicherheitsgesetze sind zusammenzutragen und auszuwerten. Nur dann wird deutlich, welcher Maßnahmenkatalog bereits gegenwärtig zur Verfügung steht. Es bedarf daher dringend einer Überwachungsgesamtrechnung. Der DAV beteiligt sich bereits an einem entsprechenden Projekt.
Nicht nur im Strafrecht und den Sicherheitsgesetzen ist der anwaltliche Berufsgeheimnisträgerschutz unantastbar. Er gehört zu den Grundwerten anwaltlicher Tätigkeit und stellt kein Privileg der Anwaltschaft um deren selbst willen dar, sondern ist unverzichtbares Fundament für das Vertrauen des Rechtssuchenden in die Verschwiegenheit im Mandat. Nur wer sicher sein kann, dass seine Informationen im geschützten Raum bleiben, wird diese auch offenbaren.
Die schnell voranschreitende digitale Transformation in allen Lebensbereichen ist eine prioritäre Daueraufgabe. Sie beginnt bei den faktischen Rahmenbedingungen. Die Netze müssen flächendeckend leistungsstark ausgestattet sein, damit nicht nur die Anwaltschaft an allen Standorten tätig sein kann und sich nicht nur am obligatorischen Rechtsverkehr risikofrei beteiligt, sondern mit den Rechtssuchenden auch zeitgemäß über Videokonferenzen, Möglichkeiten des Austausches von Unterlagen etc. kommuniziert. Die Anpassungen der Verfahrensordnungen an ein digitales Zeitalter bei Aufrechterhaltung unverzichtbarer Fundamente von Prozessen, der Ausbau der Videoverhandlungsmöglichkeiten bei gleichzeitiger Vereinheitlichung der dazu erforderlichen Software, Transparenz be...