I. Allgemeines
In der Regel ist das Straf- bzw. Bußgeldverfahren mit den (erfolglosen) Rechtsmitteln Revision oder Rechtsbeschwerde beendet. Weitere Rechtsmittel gibt es in der StPO/im OWiG nicht mehr. Vorgesehen ist dann aber ggf. noch das Wiederaufnahmeverfahren (§ 395 ff. StPO; § 85 OWiG). Dabei handelt es sich um einen Rechtsbehelf eigener Art (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, vor § 359 Rn 2 [im Folgenden kurz: Meyer-Goßner/Schmitt]; Amelung/Werning in: Burhoff/Kotz (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtlichen Rechtsmittel und Rechtsbehelfe, Teil B Rn 1054 ff. [im Folgenden kurz: Burhoff/Kotz/Amelung/Werning, RM]). Dieser dient dazu, ein rechtskräftiges Urteil, das sich als unrichtig herausstellt, überprüfen und korrigieren zu lassen. Die Wiederaufnahme steht damit im Spannungsverhältnis zwischen Rechtsfrieden schaffender Rechtskraft und materieller Gerechtigkeit (vgl. BVerfG NStZ 1995, 43 f.). Im Erfolgsfall wird die Rechtskraft und damit das Prinzip der Rechtssicherheit durchbrochen und die Strafsache in das Stadium der gerichtlichen Hauptverhandlung zurückversetzt (Meyer-Goßner/Schmitt, vor § 359 Rn 2).
Die Wiederaufnahme spielt in der Praxis der Strafverteidigung i.d.R. eine untergeordnete Rolle (vgl. dazu und zu den Gründen Burhoff/Kotz/Amelung/Werning, RM Teil B Rn 1056 m.w.N.). In der Regel haben Wiederaufnahmeanträge auch keinen Erfolg (Burhoff/Kotz/Amelung/Werning, RM, Teil B Rn 1057 f.; zu erfolgreichen Wiederaufnahmen Teil B Rn 1059). Dennoch soll hier – insb. wegen der gesetzlichen Änderung durch das "Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit" (vgl. BT-Drucks 19/30399 und BT-Drucks 19/30940; dazu unten II. ff.) ein kurzer Überblick über die Wiederaufnahme gegeben werden (wegen weiterer Einzelheiten Burhoff/Kotz/Amelung/Werning, RM, Teil B Rn 1071 ff.). Die Ausführungen beschränken sich im Wesentlichen auf das Strafverfahren (zur Wiederaufnahme im Bußgeldverfahren Gübner in: Burhoff (Hrsg.). Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, Rn 4247 ff. und unten V.).
II. Wiederaufnahmegründe
1. Allgemeines
Die Wiederaufnahme ist nur gegen rechtskräftige Urteile, rechtskräftige Strafbefehle und in analoger Anwendung der §§ 359 ff. StPO, gegen Beschlüsse statthaft. (Burhoff/Kotz/Amelung/Werning, RM, Teil B Rn 1412 ff.). Sie kann sich dagegen nicht gegen einen rechtskräftigen Bewährungswiderruf (OLG Düsseldorf StraFo 2004, 146; OLG Stuttgart NStZ-RR 1996, 176; wistra 2001, 239) richten. Sie ist auch nicht im Verfahren nach § 109 StVollzG anwendbar (OLG Hamburg NStZ 2001, 391), wenn das Urteil noch mit der Revision angegriffen werden kann (LG Göttingen, Beschl. v. 25.8.2005 – 8 KLs 4/04) oder wenn das Ziel lediglich die nachträgliche Anwendung der sog. Vollstreckungslösung ist (OLG Celle NStZ-RR 2010, 386).
Wiederaufnahmeverfahren können zugunsten oder zuungunsten des Verurteilten/Abgeurteilten durchgeführt werden (zu den Besonderheiten im Wiederaufnahmeverfahren von Jugendlichen und Heranwachsenden Burhoff/Kotz/Schimmel, RM, Teil A Rn 1022 ff.). Daneben ist die Wiederaufnahme eines Strafbefehlsverfahrens möglich, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die geeignet sind, eine Verurteilung wegen eines Verbrechens herbeizuführen (§ 373a StPO; zur Aufklärungspflicht im Wiederaufnahmeverfahren gegen einen rechtskräftigen Strafbefehl BVerfG, NZV 2016, 45).
2. Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten (§ 395 StPO)
Die Wiederaufnahmegründe zugunsten des Verurteilten sind in § 395 StPO geregelt. Dort sind folgende Wiederaufnahmegründe vorgesehen:
a) Unechte oder verfälschte Urkunde (Nr. 1)
Der Antragsgrund nach § 359 Nr. 1 liegt ggf. vor, wenn in der Hauptverhandlung, die Grundlage der rechtskräftigen Verurteilung war, zuungunsten des Verurteilten eine Urkunde als echt angesehen worden ist, die tatsächlich aber unecht oder verfälscht war (wegen der Einzelh. Burhoff/Kotz/Amelung/Werning, Teil B Rn 1179 ff.). Nach. h.M. gilt der materielle Urkundenbegriff des § 267 StGB (Meyer-Goßner/Schmitt, § 359 Rn 4 m.w.N.; Burhoff/Kotz/Amelung/Werning, Teil B Rn 1183 m.w.N.). Verfälscht ist eine Urkunde, wenn die bereits fixierte Gedankenerklärung in eine andere verändert, also die Beweisrichtung geändert wird (BGH GA 1963, 17). Dies ist selbst dann der Fall, wenn der Inhalt dadurch erst inhaltlich "wahr" wird (Fischer, StGB, 69. Aufl. 2022, § 267 Rn 33). Unecht ist die Urkunde, wenn sie ausgestellt wird, als sei sie von einer anderen Person, also eine Identitätstäuschung vorliegt (Fischer, a.a.O., § 267 Rn 27), also über die Person des Ausstellers getäuscht wird.
Die Urkunde muss in der Hauptverhandlung zum Beweis für ihren Inhalt verwendet (vgl. §§ 249, 251, 256 StPO) und durch Verlesung (§ 249 Abs. 1 u. 2 StPO) ordnungsgemäß in den Prozess eingeführt worden sein, denn nur dann ist sie als echt vorgebracht worden. Sofern nicht verlesbar, muss die Urkunde in Augenschein genommen worden sein. Allein ein Vorhalt genügt nicht (Meyer-Goßner/Schmitt, § 359 Rn 7). Es muss zudem nicht auszuschließen sein, dass die Urkunde das Urteil zum Nachteil des Angeklagten beeinflusst hat.
b) Verletzung der Eidespflicht durch Zeugen/Sachverständigen (Nr. 2)
Nach § 359 Nr. 2 StPO kann das Verfahren wieder aufgenommen werden, wenn sich ein Zeu...