Ob das Urteil des BVerfG v. 15.11.2023 (2 BvF 1/22) die Schuldenbremse des GG wirklich „scharf gestellt” hat oder eine „Anleitung zur weiteren Umgehung” darstellt, ist in der Literatur umstritten (vgl. Degenhart, NJW 2023, 7).
Der Bund der Steuerzahler soll bereits 2019 für die Staatsverschuldung der BRD 2018 einen Betrag von 1,92 Bio. EUR ermittelt haben. Selbst wenn keine neuen Schulden hinzukämen und gesetzlich bestimmt werden würde, dass jeden Monat eine Milliarde zu tilgen wäre, würde die Tilgung bis zum Jahr 2178 dauern (zit. nach Paetz/Grunert, Makroskop 2021, 49, 52).
Angesichts solcher Zahlen verwundert es nicht, dass von juristischen Kommentatoren angenommen wird, dass sich bei nüchterner Analyse des Zahlenmaterials aufdränge, dass sich die Staatsverschuldung intertemporal nicht bezahlt mache (vgl. Dürig/Herzog/Scholz/Kube, GG, Art. 115 Rn 140 ff.).
In diesem Sinne wird u.a. darauf hingewiesen, dass bereits Adam Smith (1723-1790) als Begründer der klassischen Nationalökonomie gemeint habe, dass die Kreditfinanzierung der Staatsausgaben, speziell der Kriegskosten, zu immer höheren Schulden und damit Steuerlasten führen müsse, und David Hume (1711-1776) als (fast) ebenso bedeutender Nationalökonom das Schreckensszenario einer Schulden- und Steuerspirale, die den Staat auf Dauer zerstören würde, entworfen habe. Allerdings wurde bereits 1878 die Gegenmeinung vertreten, dass ein Staat ohne Staatsschuld entweder zu wenig für seine Zukunft tue oder zu viel von seiner Gegenwart fordere, sodass die Auseinandersetzung zu dieser Frage (auch aktuell) einem Glaubenskrieg gleicht (vgl. Tappe, DÖV 2009, 881 f. m.w.N.).
Dass strukturelle Staatsverschuldung nicht zu rechtfertigen sei, kann getrost als quasireligiöses Dogma oder Märchen für Erwachsene angesehen werden. Obwohl sich Staatsverschuldung intertemporal nicht bezahlt machen soll, muss die Tatsache zur Kenntnis genommen werden, dass in nahezu allen Staaten stets eine Staatsverschuldung existiert hat. Die wenigen Ausnahmen, z.B. in den USA im Jahre 1863, was dann zu einer Rezession führte, mögen diese Regel bestätigen (vgl. Ehnts, Makroökonomik, 119). Eine nähere Betrachtung für die Industrieländer Deutschland, USA, Großbritannien, Frankreich, Italien, Spanien, Schweiz, Dänemark, Niederlande, Schweden, Norwegen, Japan, Kanada und Australien ergibt für den Zeitraum von 1880–2009 eine stets vorhandene Verschuldung, und zwar vier Perioden ansteigender Verschuldung, nämlich den Ersten Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise ab 1929, den Zweiten Weltkrieg und die Zeit nach 1975 sowie zwei Entschuldungsperioden (bei nach wie vor anhaltender Verschuldung) in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und in der Zeit vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Beginn der 1970er Jahre (vgl. Schularick, Staatsverschuldung in der westlichen Welt 1880-2009, https://www.jfki.fu-berlin.de/faculty/economics/Ehemalige_Mitarbeiter_innen/schularick/VSWG_Schularick_Staatsverschuldung_in_der_westlichen_Welt.pdf .). Durch die Finanzkrise bzw. Covid-Krise ist es seit 2009 zu einer weiter ansteigenden Staatsverschuldung gekommen.
Die Finanzierung dieser dauerhaften Verschuldung erfolgte durch eine permanente Anschlussfinanzierung, d.h. die Rückzahlung fällig werdender Anleihen erfolgt stets anhand der Emission neuer Wertpapiere. Alte Schulden wurden schlicht durch neue Schulden ersetzt (vgl. Dierks, Geldpolitik, 202). Durch die Schuldenbremse des GG (Art. 109, 115 GG) sollte die Netto-Neuverschuldung reduziert werden. Kern der Verfassungsänderungen von 2009 war die Einführung eines grundsätzlichen Verbots, die Haushalte von Bund und Ländern mit Einnahmen aus Krediten auszugleichen, also durch neue Schulden, wobei es nicht um Kredite geht, die zur Tilgung oder Umschuldung aufgenommen werden, sodass vorhandene Schulden refinanziert („weitergewälzt”) werden dürfen (vgl. Art. 109 Abs. 3 S. 1, Art. 115 Abs. 2 S. 1 GG). Eine generelle Kreditermächtigung für den Bundeshaushalt blieb allerdings i.H.v. 0,35 % des nominalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) für den Bundeshaushalt bestehen; weitere Ausnahmen sollten aus konjunkturellen Gründen bzw. außergewöhnlichen Umständen bestehen (Art. 109 Abs. 3, 115 Abs. 2 GG).
Es ist hier nicht zu diskutieren, ob dies sinnvoll oder schädlich ist, aber es ist ganz offensichtlich, dass die vermeintlich nicht zu rechtfertigende Staatsverschuldung nicht etwa zu untragbaren Zuständen geführt hat, sondern in der gesamten westlichen Welt zu einer sog. Überflussgesellschaft (der Begriff wurde von dem großen John Kenneth Galbraith bereits 1958 geprägt).
Mehr noch: Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg betrug das Defizit in USA den damaligen Rekordwert von 118 % des BIP und dennoch gelten die folgenden Jahre von 1950–1973 als „goldene Jahre des Kapitalismus” mit hohen Wachstumsraten, geringer Arbeitslosigkeit und geringer Inflation (vgl. Keen, The New Economics, 45 f.).
Der zweite Teil des Märchens für Erwachsene besteht darin, dass die Staatsschulden zulasten von „unseren Kindern” zurückgezahlt...