Die zweite Entscheidung, die ich vorstellen möchte, der Beschluss des BGH vom 7.8.2019 (1 StR 57/19) befasst sich mit der Zulässigkeit der Verlesung von ärztlichen Attesten. Das LG hatte die beiden Angeklagten jeweils wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung verurteilt. Dagegen richteten sich die Revisionen der Angeklagten, die mit ihren Verfahrensrügen beanstandet haben, dass das LG unter Verletzung der Vorschriften über den Grundsatz der persönlichen Vernehmung und den Urkundenbeweis gem. §§ 249, 250, 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO drei ärztliche Berichte über vom Geschädigten erlittene Körperverletzungen, die nicht mit einer Unterschrift versehen gewesen seien, rechtsfehlerhaft im Selbstleseverfahren in die Hauptverhandlung eingeführt habe.
Der BGH (a.a.O.) hat die Rügen als zwar zulässig erhoben, aber unbegründet angesehen. Der BGH führt aus: Mit § 256 StPO werde in Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes (§ 250 StPO) und über § 251 StPO hinaus ein Urkundenbeweis zugelassen, indem bestimmte Zeugnisse, Gutachten, Atteste, Berichte und Protokolle in der Hauptverhandlung verlesen werden können. Insbesondere in Bezug auf die hier verfahrensgegenständlichen ärztlichen Atteste über Körperverletzungen nach § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO erlaube der Gesetzgeber aus letztlich pragmatischen Gründen eine Verlesung (vgl. BGHSt 57, 24 = StRR 2012, 100). Bei der großen Anzahl der Verfahren würde es – so der BGH – zu einer übermäßigen Belastung der Ärzte und erhöhten Kosten führen, wenn in jedem Fall der Arzt, der entsprechende Feststellungen getroffen hat, persönlich vernommen werden müsste. Vor diesem Hintergrund habe der Gesetzgeber durch das Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens v. 17.8.2017 (BGBl I, S. 3202) die Verlesungsmöglichkeiten nach § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO – unabhängig vom Tatvorwurf – auf alle Körperverletzungen erweitert und dabei das Ziel verfolgt, dass auf die Vernehmung des behandelnden Arztes verzichtet werden könne, der häufig aus Mangel an Erinnerung an den früheren Patienten ohnehin nur das wiedergeben könne, was er zuvor in seinem Attest bereits schriftlich niedergelegt habe (BT-Drucks 18/11277, S. 36).
Verlesen werden könne – so der BGH (a.a.O.) – nach § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO ein ärztliches Attest, in dem ein ordnungsgemäß nach dem für ihn geltenden Berufsrecht bestellter Arzt die Art und den Umfang einer von ihm im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit wahrgenommenen Körperverletzung beschreibe (LR-Stuckenberg, § 256 Rn 45; Diemer in KK-StPO, 8. Aufl., § 256 Rn 8 m.w.N.). Im Übrigen stelle § 256 StPO keine besonderen Formerfordernisse an das Attest. Insbesondere erfordere das Attest keine besondere Unterschriftsform. Es genüge vielmehr, dass erkennbar werde, welcher Arzt die Körperverletzung festgestellt und die Verantwortung für den Befund übernommen hat, sowie dass ausgeschlossen werden kann, dass ein bloßer Entwurf vorliegt (vgl. BGH StraFo 2007, 331; BGH, Beschl. v. 1.8.2018 – 5 StR 330/18). Nichts anderes ergebe sich aus der von der Revision zitierten Entscheidung des OLG Düsseldorf (StraFo 2015, 127 = StV 2015, 542), das lediglich dann vom Fehlen der Voraussetzungen des § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO ausgehe, wenn mangels Unterzeichnung unklar bleibe, auf wessen Erkenntnisse die im Attest niedergelegten Befundtatsachen zurückgehen (insoweit missverständlich Meyer-Goßner/Schmitt, § 256 Rn 19).
Auf dieser Grundlage haben dem BGH (a.a.O.) die hier im Selbstleseverfahren (§ 249 Abs. 2 StPO) eingeführten drei ärztlichen Atteste auch ohne handschriftliche Unterzeichnung für eine Verlesung nach § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO genügt. Allen sei zu entnehmen, dass die festgestellten Befundtatsachen von Ärzten erhoben wurden, die gemeinsame Urheber der Atteste seien und die Verantwortung für den Inhalt der Berichte übernommen hätten.
Hinweis:
Grundlage für die Verlesung von ärztlichen Attesten ist § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO, der durch das "Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens" v. 17.8.2017 (BGBl I, S. 3202) in seinem Anwendungsbereich erweitert worden ist. Unabhängig vom Tatvorwurf können danach jetzt ärztliche Attest über Körperverletzungen verlesen werden. Bis zu der Neuregelung konnten nur ärztliche Atteste über Körperverletzungen, die nicht zu den schweren Körperverletzungen gehören, verlesen werden (wegen der Einzelh. s. Burhoff, HV, Rn 3194 ff. m.w.N.).