Zusammenfassung
Stellt sich die Tätigkeit einer natürlichen Person nach deren tatsächlichem Gesamtbild als abhängige Beschäftigung dar, ist ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis nicht deshalb ausgeschlossen, weil Verträge nur zwischen dem Auftraggeber und einer Kapitalgesellschaft bestehen, deren alleiniger Geschäftsführer und Gesellschafter die natürliche Person ist.
BSG, Urteile v. 20.7.2023 – B 12 BA 1/23 R; B 12 R 15/21 R; B 12 BA 4/22 R (Leitsatz des Verfassers)
I. Relevanz der aktuellen Grundsatzentscheidungen des BSG im Sozialversicherungsrecht
Nicht erst durch die Entscheidungen des LSG Nordrhein-Westfalen (Urt. v. 9.2.2022 – L 3 R 662/21, ZVertriebsR 2022, 335 = ZAP 2023, 183) und des LSG Berlin-Brandenburg (Urt. v. 29.6.2022 – L 28 BA 23/19, ZVertriebsR 2022, 335) ist erneut die Frage der Sozialversicherungspflicht von sog. Solo-Selbstständigen bzw. bei Scheinselbstständigkeit deren Rentenversicherung in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt, sondern auch das Urteil des 1. Strafsenats des BGH v. 8.3.2023 (O 1 StR 188/22) zur Beitragsvorenthaltung bei Scheinselbstständigkeit hat die Brisanz der Thematik unterstrichen.
Nunmehr sind es die Grundsatzentscheidungen des BSG v. 20.7.2023 (B 12 BA 1/23 R; B 12 R 15/21 R; B 12 BA 4/22 R), die die Diskussion erneut aufleben lassen. Den Entscheidungen des BSG kommt aus mehreren Gründen für Franchise-Systeme grundsätzliche Bedeutung zu: Zum einen wird erstmals vom BSG das „Rechtsinstitut des fingierten Arbeitsverhältnisses” i.S.v. § 10 Abs. 1 S. 1 AÜG (Arbeitnehmerüberlassungsgesetz) im Sozialversicherungsrecht angewandt; zum anderen schützt nach den Feststellungen des BSG auch eine Kapitalgesellschaft in der Rechtsform einer GmbH, nämlich einer Unternehmergesellschaft (UG), nicht vor einer Sozialversicherungspflicht; nämlich dann, wenn deren alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer die von der UG vertraglich vereinbarten Leistungen erbringt und die UG keine Mitarbeiter beschäftigt.
Die insoweit von der bisherigen Rechtsprechung der Sozialgerichtsbarkeit aufgestellten Grundsätze werden nunmehr – und dies ist die besondere Brisanz der BSG-Urteile v. 20.7.2023 – auf eine Unternehmergesellschaft und damit eine Kapitalgesellschaft erstreckt.
II. Sachverhalt und Grundsätze der BSG-Entscheidungen
Nach den Sachverhalten der einzelnen Entscheidungen waren die natürlichen Personen alleinige Gesellschafter und Geschäftsführer von Kapitalgesellschaften (Unternehmergesellschaft mit beschränkter Haftung). Mit diesen Kapitalgesellschaften schlossen Dritte Verträge über die Erbringung von Dienstleistungen ab. Diese Dienstleistungen wurden mangels Mitarbeiterbeschäftigung von dem Gesellschafter/Geschäftsführer der UG persönlich erbracht.
Die beklagte Deutsche Rentenversicherung BUND stellte in allen drei Verfahren bei der Statusprüfung fest, es bestehe eine Versicherungspflicht der handelnden/tätig werdenden natürlichen Person aufgrund der mit der jeweiligen Unternehmergesellschaft abgeschlossenen Verträge.
Dem hat sich das BSG in allen drei Verfahren mit den nachfolgenden Grundsätzen angeschlossen:
- Die konkreten tatsächlichen Umstände der Tätigkeit entscheiden nach einer Gesamtabwägung über das Vorliegen einer versicherungspflichtigen Beschäftigung.
- Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Verträge nur zwischen den Auftraggebern und den Kapitalgesellschaften geschlossen wurden.
- Die Abgrenzung zwischen selbstständiger und sozialversicherungspflichtiger Tätigkeit richtet sich nach dem Geschäftsinhalt, der sich aus den ausdrücklichen Vereinbarungen der Vertragsparteien und der praktischen Durchführung des Vertrags ergibt.
- Ohne Bedeutung ist dabei die von den Parteien gewählte Bezeichnung des Vertrags oder die gewünschte Rechtsfolge.
- Die fehlenden vertraglichen Beziehungen zwischen dem Alleingesellschafter der Unternehmergesellschaft und dem Auftraggeber spielen sozialversicherungsrechtlich keine Rolle.
- Mit der Gründung einer Unternehmergesellschaft als Kapitalgesellschaft kann eine sich aus dem tatsächlichen Gesamtbild ergebene Sozialversicherungspflicht nicht umgangen werden.
- Die Leistungen/Beratungen der natürlichen Person hinter der Unternehmergesellschaft führen zu einer die Sozialversicherung auslösenden Beschäftigung zum Auftraggeber, wenn und soweit diese Tätigkeit ihrer Art nach zu einer Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Auftraggebers führt und eine Weisungsgebundenheit besteht (sog. sozialversicherungsrechtliche Eingliederungstheorie, § 7a Abs. 2 S. 2 SGB IV).
Damit unterstreicht das BSG – diesmal für eine Ein-Personen-Kapitalgesellschaft (UG) – die Grundsätze, die bislang für natürliche Personen aufgestellt worden sind und wie diese bereits durch das Hessische Landessozialgericht mit Urt. v. 23.1.2023 (L 8 BA 51/20) für eine GbR-Gesellschaft festgestellt worden sind.
III. Tragweite der BSG-Entscheidungen für Unternehmergesellschaften
Von grundsätzlicher Bedeutung an den Entscheidungen des BSG ist aber die Anwendung des „Rechtsinstituts des fingierten Arbeitsverhältnisses”, ein Rechtsinstitut, das bislang nur im Arbeitnehmerüberlassungsrecht Verwendung findet (§ 10 Abs. 1 S. 1 AÜG). Unter Anwendung dieses „Rechtsinstituts des fingierten Arbeitsverhäl...