1. Kritik am BAG
Die Kritik an dieser Rechtsprechung entzündete sich seit 2019 schnell. So wird die dogmatische Ableitung dieses Gebots des fairen Verhandelns als schuldrechtliche Nebenpflicht aus § 241 Abs. 2 BGB stark angezweifelt (Boemke, JuS 2019, 1204, 1206; Holler, NJW 2019, 2206; Kamanabrou, RdA 2020, 201, 209; Hördt, Überrumpelung und Druck – Das Gebot fairen Verhandelns und seine Reichweite, ArbRAktuell 2019, 289, 291; LAG Hamm, Urt. v. 17.5.2021 – 18 Sa 1221/20; Stoffels nennt es eine „fragwürdige Konstruktion”, NJW-Aktuell 12/2022, S. 22). Denn der Gesetzgeber habe nur eng begrenzte Möglichkeiten geschaffen, Vertragserklärungen wieder zu beseitigen. Dem BAG wird vorgeworfen, dass er sich über diese vom Gesetzgeber vorgegebenen Instrumente zur Kontrolle von Vertragsabschlüssen (§§ 105, 123, 134, 138, 307 ff. BGB) hinwegsetze und diese quasi freihändig um das Gebot fairen Verhandelns erweitere (Holler, NJW 2019, 2206, 2207, 2209). Nur schwerwiegende Gründe, die die Schwelle der vorgenannten Vorschriften überschreiten, könnten zu einem Wegfall einer Willenserklärung führen.
Die Kritik warnt daher, dass dem Arbeitnehmer durch das Gebot fairen Verhandelns eine Tür für ein generelles Reuerecht geöffnet wird – quasi ein außergesetzliches Rücktrittsrecht, das unabhängig von einem Anfechtungs- oder gesetzlichem Widerrufsrecht bestünde (Rolfs – Hessisches LAG: Gebot fairen Handelns beim Aufhebungsvertrag, Blog-Beitrag v. 10.2.2021, https://community.beck.de/2022/02/10/hessisches-lag-gebot-fairen-verhandeln-beim-aufhebungsvertrag Zugriff: 13.2.2023). Dieses vom BAG geschaffene Fairness-Gebot würde so als Allzweckwaffe gegen unliebsame Aufhebungsverträge eingesetzt werden. So wird diese Befürchtung bereits im Titel von Veröffentlichungen ausgesprochen (so Fischinger, Das Gebot fairen Verhandelns als Allzweckwaffe gegen unliebsame Aufhebungsverträge, NZA-RR 2020, 516 ff.). Es sei „künftig höchste Vorsicht geboten” (so Reufels/Pütz, ArbRB 2020, 253, 255).
Als praktische Konsequenz daraus wird weiter befürchtet, der Arbeitgeber habe demnächst bei Aufhebungsvertragsverhandlungen aus Fairnessgründen von sich aus „die psychische Gefühlslage des Arbeitnehmers zu ergründen”, um dessen freie Willensbildung festzustellen (Eufinger, DB 2020, 2695).
Als weitere Folge dieses Schadensersatzanspruches wird auf die längeren Fristen verwiesen, da der Schadensersatzanspruch der dreijährigen Regelverjährungsfrist des § 195 BGB unterliegt, während eine Anfechtung innerhalb eines Jahres erfolgen muss (§ 124 BGB; Bauer/Romero, ZFA 2019, 608, 617).
Außerdem wird weiter bemängelt, dass der Begriff des „Gebots fairen Verhandelns” vom BAG nicht definiert, sondern nur anhand von Beispielen erläutert wurde (Holler, NJW 2019, 2206, 2209; Fischinger, NZA 2019, 729, 733).
2. LAG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 19.5.2020 – 5 Sa 173/19
Besonders ein Urteil wird als Beleg dafür angeführt, dass das BAG mit dem „Gebot des fairen Verhandelns” eine Büchse der Pandora geöffnet habe (LAG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 19.5.2020 – 5 Sa 173/19): In diesem Fall konnte der Arbeitnehmer erfolgreich gegen einen abgeschlossenen Aufhebungsvertrag vorgehen. Der Arbeitnehmer, ein Quereinsteiger-Lehrer für Chemie, erhielt nach mehreren befristeten Arbeitsverträgen einen unbefristeten Arbeitsvertrag. Dieser beinhaltete aber trotz der vorherigen zweijährigen Beschäftigung erneut eine befristete Probezeit. Damit war die höchstzulässige befristete Beschäftigungsdauer von zwei Jahren des § 14 Abs. 2 TzBefrG überschritten, sodass die Probezeitbefristung unwirksam war.
Der Lehrer wurde außerdem an eine problematische Förderschule versetzt, wo er überfordert war. Anlässlich einer Hospitation der Schulleiterin kritisierte diese den Lehrer heftig unter vier Augen („so geht das bei uns nicht”). Entnervt, verzweifelt und mit den Nerven am Ende, so das Gericht, unterschrieb er einen Aufhebungsvertrag.
Das LAG kritisierte, dass dem Lehrer der Eindruck vermittelt wurde, er befände sich noch in der befristeten Probezeit. Außerdem hielt es dem Arbeitgeber vor, dass dem pädagogisch nicht vorgebildeten Lehrer eine problematische Förderklasse zugeordnet wurde. Es sah den Lehrer so heftig unter massiven Druck gesetzt. Das LAG erkannte darin eine Einschränkung seiner Entscheidungsfreiheit und betrachtete die Umstände des Aufhebungsvertrags als Pflichtverletzung.
Kritiker sehen durch dieses Urteil ihre Befürchtungen bestätigt und werfen dem Gericht Lebensferne vor: Wie hätte der Arbeitgeber denn Kritik üben sollen (Fischinger, NZA-RR 2020, 516, 517; Eufinger, DB 2020, 2695)? Sie verneinen außerdem sowohl einen Überrumpelungseffekt als auch einen unzulässigen psychischen Druck auf den Lehrer. Es wird der Vorwurf erhoben, das LAG habe „... freischöpferisch im Sinne der eigenen rechtspolitischen Vorstellungswelt” judiziert (Fischinger, NZA-RR 2020, 516, 518 f. unter Hinweis auf die ihm vorgelegenen Fallmaterialien).
3. Bewertung der Rechtsprechungskritik
Den Kritikern des Fairness-Gebots ist nicht zu folgen. Anderenfalls könnte das Zustandekommen eines Vertragsverhältnisses ausschließlich anhand der Vorschri...