Eltern haften für ihre Kinder! Dieser „sachdienliche” Hinweis befindet sich auch heute noch an vielen Baustellen, Zäunen und sonstigen Grundstückseinfriedungen. Wer kraft Gesetzes zur Führung der Aufsicht über eine Person verpflichtet ist, die wegen Minderjährigkeit oder wegen ihres geistigen oder körperlichen Zustandes der Beaufsichtigung bedarf, ist zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den diese Person einem Dritten widerrechtlich zufügt (§ 832 BGB).

Das Ausmaß der jeweils erforderlichen Aufsichtspflicht bestimmt sich nach Alter, den individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten des Aufsichtsbedürftigen und den besonderen Gegebenheiten im konkreten Fall (BGH, Urt. v. 24.3.2009 – VI ZR 51/08). Schon das Reichsgericht (Urt. v. 30.12.1901 – RGZ 50,60 sowie Urt. v. 15.3.1920 – RGZ 98, 256) hat festgestellt, dass der Geschädigte im Einzelnen darzulegen und zu beweisen hat, dass die tatsächlichen Grundlagen einer verschärften Aufsichtspflicht verletzt wurden und er deshalb einen Schaden davongetragen hat. Diese Rechtsprechung zu § 832 BGB ist vom BGH und den Oberlandesgerichten weiterentwickelt worden, wobei vielfach auf das Spannungsverhältnis zwischen der Notwendigkeit der freien Entfaltung der Persönlichkeit von Kindern einerseits und dem berechtigten Interesse der Allgemeinheit Gefahrensituationen einzudämmen, verwiesen wird. Der 26. Zivilsenat des Oberlandesgerichtes Hamm (Urt. v. 21.11.2023 – 26 U 79/23) hat das Maß der elterlichen Aufsichtspflicht aus meiner Sicht zu Unrecht erheblich ausgeweitet.

Was war geschehen?

Der zum Schadenzeitpunkt knapp drei Jahre alte Sohn der Beklagten befuhr einen kombinierten Rad- und Fußweg, den Biggerandweg, mit einem Laufrad. Er befand sich in einer Entfernung von fünf, maximal neun Metern vor seinen Eltern, die ihn im Blick hatten. In derselben Geh- und Fahrtrichtung näherte sich von hinten der Geschädigte mit einem Fahrrad. Als er die Beklagten und ihren Sohn wahrnahm, machte er durch Klingeln auf sich aufmerksam, reduzierte seine Geschwindigkeit und lenkte nach links, um so an den Beklagten und dem Sohn der Beklagten vorbeizufahren. Als die Beklagten den von hinten kommenden Kläger bemerkten, riefen sie ihrem Sohn „Stopp” zu. Der Sohn der Beklagten reagierte darauf, indem er stoppte, dabei aber eine Lenkbewegung nach links machte. Der Kläger konnte einen Zusammenprall mit dem Kind der Beklagten nur durch ein abruptes Abbremsen verhindern, stürzte über den Lenker seines Fahrrades und fiel dabei zu Boden.

Unter Zugrundelegung dieses Sachverhalts hat der Senat vorliegend eine Verletzung der Aufsichtspflicht der Eltern des Kindes bejaht. Aufgrund eines räumlichen Abstandes von mindestens fünf bis neun Metern habe nach Auffassung des Senates keine Möglichkeit bestanden, unmittelbar auf den Sohn einzuwirken.

Nun ja!

Ein Kind, das sich auf einem Rad- und Fußweg wenige Meter vor seinen Eltern entfernt bewegt, ist immer noch im unmittelbaren Einwirkungsbereich der Eltern. Ein Kind von knapp drei Jahren befindet sich in einer Entwicklungsphase, in der es darauf angewiesen ist, die eigenen gelernten Fähigkeiten fortwährend neu zu trainieren. Der Maßstab, den der Senat an die Sorgfaltspflichten der Eltern anlegt, muss bei konsequenter Beachtung dazu führen, dass Kinder ein Laufrad, ein Fahrrad oder ein Dreirad gar nicht mehr nutzen dürfen, weil eine unmittelbare Einwirkungsmöglichkeit der Eltern, wie sie von dem Oberlandesgericht gefordert wird, faktisch nur erreicht werden kann, wenn das Fahr- oder Laufrad, von den Eltern an einer Stange oder Leine geführt wird.

Damit wäre die Nutzung durch Kinder, um das Gleichgewicht zu trainieren, letztlich nur im eigenen Garten oder dort erlaubt, wo sie nicht andere Fußgänger oder Fahrradfahrer treffen könnten. Dies erscheint abwegig und ist auch vom Gesetzgeber nicht gewollt.

Bereits das Saarländische Oberlandesgericht (Urt. v. 18.7.2006 – 4 U 239/05) hatte darauf hingewiesen, dass Kinder im Alter von fast drei Jahren nicht ständig an der Hand geführt werden können. Kinder beharren auf ihre Eigenständigkeit sowie Selbstständigkeit und bestehen auf ihr gerade erst gelerntes unabhängiges freies Laufen, und sei es auch mit einem Laufrad. Dementsprechend müssen Eltern ihre Kinder auch nur in besonderen Gefahrensituationen an die Hand nehmen. Dies mag beispielsweise der Fall sein, wenn eine Straße überquert wird, auf der motorisierter Verkehr fließt, nicht aber im Bereich eines kombinierten Rad- und Fußwegs, für den ohnehin ganz besondere Sorgfaltsanforderungen für Fahrradfahrer gelten.

Im Übrigen: Der Sohn der beklagten Eltern hat auf unmittelbaren Zuruf reagiert, indem er stoppte. Mit diesem Verhalten hätte der sich von hinten nähernde Kläger rechnen können und müssen, wobei an ihn als Radfahrer auf einem kombinierten Geh- und Radweg ohnehin erhöhte Sorgfaltsanforderungen zu stellen sind. Radfahrer müssen jede Gefährdung vermeiden. Fußgänger dürfen den gemeinsamen Fuß- und Radweg auf der ganzen Breite nutzen und müssen insbesondere nicht fortwährend nac...

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