I. Gerichtliche Aufklärung ergänzt Beibringung
Nach § 142 Abs. 1 ZPO kann das Gericht anordnen, dass eine Partei oder ein Dritter eine Urkunde oder sonstige Unterlagen vorlegt. Damit schafft § 142 Abs. 1 ZPO für das Gericht ein eigenes Instrument, um einen Sachverhalt aufzuklären. Sinn und Zweck ist, dass das Gericht sich möglichst früh einen umfassenden Überblick über den dem Rechtsstreit zugrunde liegenden Sachverhalt verschaffen kann (BT-Drucks 14/4722, S. 78) und sicherstellt, das Parteivorbringen zutreffend zu verstehen (Zöller/Greger, ZPO, 32. Aufl. 2018, § 142 Rn 1). Dies hilft dem Gericht bei seinen Aufgaben, den Prozess zu planen, zu leiten, zu beschleunigen und zu entscheiden. Das Gericht muss nicht warten, ob und ggf. wann die Parteien es für taktisch sinnvoll halten, eine relevante Urkunde vorzulegen oder nach §§ 421, 424, 428 oder 432 ZPO anzufordern.
Die Norm schränkt das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, die Dispositionsmaxime und den Beibringungsgrundsatz ein, zugunsten der Interessen der Wahrheitsfindung und der Prozessökonomie. Das Gericht kann die Urkundenvorlegung ohne Antrag der Parteien und gegen den Willen beider Parteien anordnen, unabhängig von der Darlegungs- und Beweislastverteilung. Erforderlich, aber ausreichend ist allein, dass eine der Parteien auf die Urkunde Bezug genommen hat.
Diese gesetzliche Gestaltung ist kein Unfall. Die Norm steht im Zusammenhang mit weiteren Aufklärungsinstrumenten des Gerichts, namentlich anzuordnen, dass die Parteien gem. § 141 ZPO persönlich erscheinen, gem. § 143 ZPO Akten mit den Dokumenten des Rechtsstreits vorlegen und sie oder Dritte gem. § 144 ZPO Gegenstände oder elektronische Dokumente (§ 371 Abs. 1 S. 2 ZPO) zur Inaugenscheinnahme durch das Gericht oder einen Sachverständigen vorlegen. Das Prozessrecht kennt weitere, allein in die Hand des Gerichts gelegte Aufklärungsinstrumente, etwa nach § 273 Abs. 2 Nr. 2 ZPO bei Behörden oder Trägern eines öffentlichen Amtes Urkunden oder amtliche Auskünfte einzuholen, nach § 378 Abs. 2 ZPO anzuordnen, dass Zeugen Aufzeichnungen und andere Unterlagen zum Termin mitbringen, nach § 102 HGB anzuordnen, dass ein Handelsmakler sein Tagebuch vorlegt, nach § 258 Abs. 1 HGB anzuordnen, dass eine Partei ihre Handelsbücher vorlegt, sowie nach §§ 235 Abs. 1, 236 Abs. 1 FamFG (zuvor § 643 ZPO a.F.) in Unterhaltsstreitigkeiten Angaben und Belege von den Parteien und von Dritten anzufordern.
Korrespondierend haben die Parteien ein eigenes Recht aus § 134 ZPO, in alle im Besitz des Gegners befindlichen Urkunden Einsicht zu erhalten, auf die er in vorbereitenden Schriftsätzen Bezug genommen hat. § 134 ZPO setzt keine Anordnung des Gerichts voraus und räumt dem Gericht kein Ermessen über das Ob der Einsichtnahme ein. Der Gegner ist, wenn er rechtzeitig aufgefordert wird, verpflichtet, die in seinen Händen befindlichen Urkunden, auf die er in einem vorbereitenden Schriftsatz Bezug genommen hat, vor der mündlichen Verhandlung auf der Geschäftsstelle niederzulegen und die Partei von der Niederlegung zu benachrichtigen. Die Partei hat zur Einsicht der Urkunden eine Frist von drei Tagen. Die Frist kann auf Antrag von dem Vorsitzenden verlängert oder abgekürzt werden.
In zweiter Linie hat § 142 ZPO eine Beweisfunktion. Dies folgt daraus, dass das Beweisrecht in § 428 ZPO eine Verweisung auf § 142 ZPO enthält: Der Beweis mit einer im Besitz eines Dritten befindlichen Urkunde wird durch den Antrag angetreten, zur Herbeischaffung der Urkunde eine Frist zu bestimmen oder eine Anordnung nach § 142 ZPO zu erlassen. Doch auch ohne Antrag nach § 428 ZPO kann und darf die Anordnung nach § 142 ZPO dazu dienen, Beweismittel bereitzustellen (BGH, Beschl. v. 26.10.2006 – III ZB 2/06, juris Rn 5).
Im Unterschied zu der Möglichkeit der Parteien aus §§ 421 ff. ZPO, einen Urkundenbeweis durch den Antrag anzutreten, dem Gegner die Vorlegung der in seinem Besitz befindlichen Urkunde aufzugeben, greift § 142 ZPO schon auf der Darlegungsebene. Zudem kann das Gericht die Vorlegung nach seinem Ermessen auch dann anordnen, wenn kein bürgerlich-rechtlicher Herausgabe- oder Vorlegungsanspruch der Partei gegen den Gegner i.S.d. § 422 ZPO besteht, etwa aus §§ 809, 810 BGB, und der Gegner nicht auf die Urkunde i.S.d. § 423 ZPO Bezug genommen hat.
Die einschränkende Ansicht, bei Bezugnahme einer Partei auf eine Unterlage des Gegners könne die Vorlegung nur angeordnet werden, wenn eine Vorlagepflicht nach §§ 422, 423 ZPO besteht (Stein/Jonas-Althammer, ZPO, 23. Aufl. 2015, § 142 Rn 19), trifft nicht zu. Eine solche Einschränkung findet weder im Zweck, der Sachaufklärung des Gerichts zu dienen, noch im Wortlaut und der Systematik der Norm eine Grundlage. Im Gegensatz zu § 423 ZPO genügt bei § 142 ZPO die Bezugnahme auf Urkunden im Besitz des Gegners (BGH, Urt. v. 26.6.2007 – XI ZR 277/05, juris Rn 18). Das Zivilprozessreformgesetz 2001 erweiterte die alte Fassung des § 142 Abs. 1 ZPO, nach der einer Partei nur die Vorlage solcher Urkunden auferlegt werden konnte, auf die sie sich selbst bezogen ...