§ 43 BRAO stammt aus der überholten Zeit, in denen das anwaltliche Berufsrecht von der Idealvorstellung geprägt war, einem ethisch geprägten Idealbild eines Rechtsanwalts zu dienen. Bis zur sog. Bastille-Entscheidung des BVerfG (Beschl. v. 14.7.1987 – 1 BvR 537/81, NJW 1988, 191) wurden die unbestimmten Rechtsbegriffe von § 43 BRAO durch die bis dato geltenden Standesrichtlinien näher bestimmt und konkretisiert. Mit der Kassierung der Standesrichtlinien durch das Bundesverfassungsgerichts und dem Erlass konkreter Regelungen des anwaltlichen Berufsrechts in § 43a BRAO und in der BORA wäre es daher konsequent gewesen, § 43 BRAO zeitgleich zu streichen, was aber unterblieben ist (Ebenso BeckOK-BRAO/Praß, 22. Ed. Stand 1.8.2022, § 43 BRAO Rn 2). Nach wie vor ist daher in § 43 BRAO die sog. allgemeine Berufspflicht des Rechtsanwalts enthalten.
§ 43 BRAO gilt unverändert fort und wurde auch nicht in der jüngeren Vergangenheit einer gesetzgeberischen Neuregelung unterworfen. Sein Wortlaut ist bis heute unverändert und lautet wie folgt:
Zitat
Der Rechtsanwalt hat seinen Beruf gewissenhaft auszuüben. Er hat sich innerhalb und außerhalb des Berufs der Achtung und des Vertrauens, welche die Stellung des Rechtsanwalts erfordert, würdig zu erweisen.
Einigkeit besteht noch insoweit, dass § 43 BRAO unanwendbar ist, wenn speziellere berufsrechtliche Regelungen in BRAO, BORA oder FAO einschlägig sind. Stark umstritten ist aber, inwieweit auf § 43 BRAO zurückgegriffen werden kann, wenn entsprechende Spezialregelungen fehlen, mithin inwieweit § 43 BRAO eine Auffang- bzw. Transportfunktion zugeschrieben werden kann.
Nach einer Meinung soll § 43 BRAO gänzlich unanwendbar sein, da die unbestimmten Rechtsbegriffe "gewissenhaft" und "würdig" eine reine Leerformel darstellten, mit der Eingriffe in die Berufsausübung des Rechtsanwalts nicht zu rechtfertigen seien (so BeckOK-BRAO/Praß, 2022, a.a.O., § 43 BRAO Rn 4).
Nach zutreffender und wohl h.M. kommt § 43 BRAO jedenfalls eine Transportfunktion (besser: Transformationsfunktion, ebenso Schulz, JA 2009, 206) zu, sofern ein Verstoß gegen Pflichten außerhalb der BRAO und BORA vorliegt, die für die anwaltliche Berufsausbildung relevant sind, indem § 43 BRAO den Regelverstoß auch als Berufspflichtverletzung qualifiziert, sodass letztlich Sanktionsmöglichkeiten nach Maßgabe von § 113 Abs. 1 BRAO (sog. anwaltsgerichtliche Maßnahmen) entstehen. Voraussetzung für die Transformationsfunktion ist, dass der begangene Verstoß charakterlich einem berufsrechtlich relevanten Gesetzesverstoß gleichkommt, was immer dann der Fall ist, wenn der Gesetzesverstoß über den konkreten Einzelfall hinaus geeignet ist, das Vertrauen der Allgemeinheit in die Kompetenz und Integrität der Anwaltschaft zu beeinträchtigen und damit die Funktion der Anwaltschaft im System der Rechtspflege zu stören (AnwG Berlin, Beschl. v. 5.3.2018 – 1 AnwG 34/16, NJW 2018, 2421; Henssler/Prütting/Prütting, BRAO, 6. Aufl. 2024, § 43 Rn 21 ff. u. 24; Peitscher, 2021, a.a.O., § 17 Rn 172 ff.; Weyland/Bauckmann, BRAO, 11. Aufl. 2024, § 43 Rn 13).
Als berufsrechtlicher Verstoß über die Transformationsnorm der allgemeinen Berufspflicht in § 43 BRAO werden daher von der h.M. angesehen:
- Vorsätzlich begangene Straftaten und Ordnungswidrigkeiten weisen in aller Regel zugleich eine berufsrechtliche Relevanz auf, da es als allgemeine Berufspflicht des Rechtsanwalts angesehen wird, nicht nur im Kernbereich der anwaltlichen Tätigkeit keine Strafbarkeiten zu begehen, sondern auch im außerberuflichen Bereich die allgemeinen Gesetze zu achten (Weyland/Bauckmann, 2024, a.a.O., § 43 BRAO Rn 16). Hierzu gehören insb. Parteiverrat, Beleidigung, Betrug, Nötigung, Erpressung, Bestechung, Hehlerei und Untreue. Der Rechtsanwalt muss auch die allgemeinen Steuergesetze beachten, sodass bei einer Steuerhinterziehung zugleich ein Berufspflichtverstoß vorliegt. Als Beispiel einer berufsrechtlich relevanten Ordnungswidrigkeit ist die Zustellungsvereitelung durch den Rechtsanwalt zu nennen, indem dieser wahrheitswidrige Angaben zur Person des Zustellungsempfängers macht, §§ 14, 111 OWiG (AnwG Freiburg, Urt. v. 12.4.2002 – EV 146/00, BRAK-Mitt. 2002, 244).
- Auch der Verstoß gegen öffentlich-rechtliche Normen kann zugleich einen Berufspflichtverstoß darstellen. Namentlich die Verpflichtungen des Rechtsanwalts nach der DL-InfoV (vgl. §§ 6, 6c, 146 GewO) und ein Verstoß gegen §§ 4, 28 BDSG 2003 sind hier zu nennen (AnwG Berlin, Beschl. v. 5.3.2018 – 1 AnwG 34/16, NJW 2018, 2421). Gleiches gilt, wenn der Rechtsanwalt sein Recht auf Akteneinsicht in Strafakten nach § 147 StPO oder Gerichtsakten nach § 299 ZPO, § 100 VwGO und § 78 FGO missbraucht oder sich an Verhaltensweisen beteiligt, die nach dem Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) unzulässig sind, da er damit das Rechtsberatungsmonopol der Anwaltschaft in Frage stellt, das den Schutz der Rechtsuchenden vor Gefahren aus der Tätigkeit unkundiger und unzuverlässiger Rechtsberater dient (Henssler/Prütting/Prütting, 2024, a.a.O., § 43 BRAO...