Schuld sind immer die Anderen oder die Umstände. Wer kennt das nicht aus dem Strafrecht? Der Täter kann nicht verantwortlich sein, weil ihn entweder seine genetische Veranlagung, seine Erziehung oder die Umwelteinflüsse zur Tat getrieben haben. Im Zivilrecht hört man es häufig: Der unmündige Bürger soll für seine rechtsgeschäftlichen Handlungen nicht verantwortlich sein, weil er aufgrund von Verführung oder Druck durch Medien und Werbung nicht anders handeln konnte. Verbraucherschutz und Gängelung statt Eigenverantwortung, niemand übernimmt gern eigene Verantwortung. Es ist aber Zeit, das zu ändern. Befreien wir uns auch im Recht von übermäßiger manipulativer Gängelung und kehren wir zur Eigenverantwortung zurück!
Die Abkehr von der Eigenverantwortlichkeit wird gestützt durch ex cathedra seit Jahrzehnten verkündete Thesen vieler Hirnforscher (Roth, Singer, Stirner). Sie vertreten die Auffassung: Alles ist determiniert. Einen freien Willen gibt es nicht. Aus den Experimenten des Forschers Benjamin Libet entnehmen sie: Prozesse, die Entscheidungen steuern, erfolgen unbewusst auf der Basis eines Bereitschaftspotenzials und einer erst nach der Handlung im Gehirn messbaren Aktivität. Aus der Tatsache, das letztere der Handlung nachfolgt, ergibt sich für sie das Ende des freien Willens – oder besser: der Entscheidungsfreiheit.
Dass solche bei Spontanreaktionen (bislang keinesfalls bei differenzierten und lange erwogenen Entscheidungen) festgestellten hirnphysiologischen Vorgänge den Schluss auf das Fehlen freier Entscheidungen nicht rechtfertigen, hat Benjamin Libet zu seinen eigenen Experimenten selber festgestellt (Libet, Mind Time, 2005, "Das bewusste Veto", S. 177, 181: "Die Existenz der Veto-Möglichkeit steht außer Zweifel.").
Grundlage unseres Rechtssystems ist die Möglichkeit freier Willensbildung. Ist diese wirklich eine Illusion?
In erster Linie gilt für das Strafrecht: Nur wer verantwortlich ist, kann bestraft werden. Auch im Zivilrecht soll die autonome Entscheidung gewährleistet sein. Sie darf nicht durch Drohung oder Täuschung manipuliert werden (§ 123 BGB).
Nun mögen genetische Anlage, evolutionäre Konditionierung und Umwelteinflüsse weit häufiger als angenommen Entscheidungen bedingen, einschränken oder ausschließen. Die Entscheidungsmöglichkeit (gemeinhin: den freien Willen) aber unter Bezugnahme auf die Libet-Experimente und die Untersuchungen der Hirnforscher gänzlich zu leugnen und alle Handlungen als strikt determiniert zu deklarieren, ist und bleibt eine verfehlte Folgerung aus den bisherigen Erkenntnissen, auch wenn der neuere hirnphysiologische Determinismus im Rahmen seiner "wissenschaftlichen correctness" die Verteidiger der Entscheidungsfreiheit als rückständig darzustellen versucht. Die Leugnung der Entscheidungsfreiheit und die Unterwerfung unter einen strikten Determinismus lässt sich aber schon im experimentellen Bereich kaum mit den neueren Erkenntnissen der Quantenphysik und der Heisenberg‘schen Unschärferelation vereinbaren. Beide belegen, dass Vorgänge sogar im mikrophysikalischen, materialistischen Sektor nicht stets strikt kausal, berechenbar und deterministisch ablaufen, sondern unter gleichen Bedingungen unterschiedliche Resultate erzeugen können, ganz unabhängig vom zusätzlichen bestimmenden Einfluss des jeweiligen Experimentators. Warum soll das ausgerechnet bei Vorgängen anders sein, die vom menschlichen Bewusstsein bestimmt werden?
Der immerwährende Rückgriff auf Libet hilft nicht weiter. Libet selber hat seine Experimente keineswegs als Nachweis für einen strikten Determinismus verstanden, im Gegenteil. Er hat festgestellt, dass auch eine vor messbarer Gehirnaktivität ausgelöste Spontanhandlung noch gestoppt werden kann. Die übereilten Schlussfolgerungen der Hirnforscher auf das Ende der Entscheidungsfreiheit, denen es, wie ich an anderer Stelle dargelegt habe, an logischer Stringenz fehlt, lassen jedenfalls sicherlich nicht den Schluss zu, dass Handlungen in allen Fällen strikt determiniert sind (Reinelt, "Hirnforschung und Rechtswissenschaft", ZAP Sonderausgabe 2009 zum 20-jährigen Jubiläum der ZAP, S. 65 = http://bghanwalt.de/veroeffentlichungen/vo_r72_c.htm; Reinelt, "Entscheidungsfreiheit und Recht – Determinismus contra Indeterminismus", NJW 2004, S. 2792 = http://bghanwalt.de/veroeffentlichungen/vo_r47_c.htm).
Neuere Untersuchungen des Forschers John-Dylan Haynes ergeben: Das bei den Libet-Experimenten als Grundlage der Hirnforschung festgestellte Bereitschaftspotenzial vor einer Gehirnaktivität leistet keinesfalls einen Beweis dafür, dass der Mensch seine Entscheidungen durch das Gehirn diktiert bekommt. Auch ist nicht mit letzter Sicherheit geklärt, ob Gehirnaktivität nicht schon vor einem Zeitpunkt einsetzt, zu dem sie bei den Experimenten gemessen werden kann.
Haynes hat bei umfangreichen Versuchen zur Messung von Hirnströmen und Beinmuskulatur mit Elektroden bei Versuchsteilnehmern Feststellungen von Libet bestätigt: Auch nach spontanen Fußbewegungen konnten die Prob...