Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt kommt nicht nur in "großen" Verfahren in Betracht, sondern kann auch vom Amtsgericht angeordnet werden; § 74 Abs. 1 GVG weist lediglich die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, nicht aber jene in einer Entziehungsanstalt der großen Strafkammer beim Landgericht zu. Der Verteidiger muss deshalb in jedem Strafverfahren, in dem ein übermäßiger Alkohol- und/oder Drogenkonsum seines Mandanten im Raum steht, die Möglichkeit einer Maßregel gem. § 64 StGB im Blick haben.
Die Zahl der in einer Entziehungsanstalt untergebrachten Personen hat in den letzten Jahren enorm zugenommen. Allein in der Zeit von 1996–2014 kam es im Maßregelvollzug zu einer Verdreifachung der Belegungszahlen (Schönke/Schröder/Kinzig, StGB, 30. Aufl. 2019, § 64 Rn 2 [im Folgenden kurz: S/S/Kinzig]).
Geschuldet ist diese Entwicklung insb. einer ausgesprochen unterbringungsfreundlichen Rechtsprechung des BGH, die dieser gegenüber den Instanzgerichten mit großem Nachdruck durchsetzt. So werden, und dies in den letzten Jahren verstärkt, immer wieder Urteile beanstandet, in denen die Anordnung der Unterbringung unterblieben war. Umgekehrt sind Urteilsaufhebungen wegen einer Nichtanordnung der Maßregel eher selten.
Hinweis:
Die Gründe für die Unterbringung einschließlich der Prognosetatsachen muss das Gericht im Urteil darlegen, § 267 Abs. 6 S. 1 StPO. Im umgekehrten Fall, wenn die Anordnung unterbleibt, sind die maßgeblichen Erwägungen hierfür ebenfalls darzulegen, wenn sich die Prüfung des § 64 StGB anhand der festgestellten Einzelfallumstände, insb. wegen eines langjährigen BtM-Konsums des Angeklagten, aufdrängte (BGH, Beschl. v. 22.10.2019 – 4 StR 171/19). In diesem Fall sind Ausführungen zur Unterbringung auch dann erforderlich, wenn sie keiner der Verfahrensbeteiligten beantragt hat (BGH, Beschl. v. 2.10.2019 – 3 StR 406/19).
Trotz des recht eindeutigen Kurses des BGH tun sich viele Tatgerichte im Umgang mit § 64 StGB schwer, mitunter wird gar eine "Ignoranz der Tatgerichte" gegenüber der Existenz der Maßregel beklagt (vgl. S/S/Kinzig, § 64 Rn 2 m.w.N.). Allerdings wird man den so gescholtenen Tatgerichten zumindest zugutehalten müssen, dass die vom BGH mit so großem Nachdruck verfochtene Marschrichtung nicht nur positive Wirkungen hat, sondern, was schon die enorm hohe Abbruchquote von rund 50 % (Querengässer/Ross/Bulla/Hoffmann NStZ 2016, 58) nahelegt, anscheinend auch dazu führt, dass in den Therapieeinrichtungen in erheblichem Maße durch für die Behandlung ungeeignete Patienten Kapazitäten gebunden werden.
Für die Verteidigung ist der Kurs des BGH Fluch und Segen zugleich:
Einerseits ist eine vom Angeklagten angestrebte Unterbringung relativ leicht zu erreichen. Dies kann in Verfahren, in denen lange Haftstrafen drohen, die Chance eröffnen, dass der Angeklagte gem. § 67 Abs. 5 StGB bereits nach Verbüßung der Hälfte der Strafe und damit mitunter wesentlich früher als bei einer Vollstreckung im allgemeinen Strafvollzug die Freiheit wiedererlangt, zumal bei vielen Tatgerichten die Neigung verbreitet ist, Einlassungen des Angeklagten zu seinem (vermeintlichen) Rauschmittelkonsum recht schnell als "unwiderlegbar" einzustufen und damit letztlich ohne die gebotene kritische Überprüfung zu übernehmen.
Andererseits führt die Maßregel in Verfahren mit eher überschaubarer Straferwartung mitunter umgekehrt dazu, dass sich die Dauer der Freiheitsentziehung insgesamt verlängert, und zwar namentlich dann, wenn die voraussichtliche Therapiedauer die Dauer der Freiheitsstrafe übersteigt.
Hinweis:
Unabhängig vom jeweiligen Verteidigungsziel im Einzelfall empfiehlt es sich, die Problematik des § 64 StGB frühzeitig, nämlich bereits bei der Prüfung der Frage, ob sich der Angeklagte zur Person und zur Sache einlassen oder vom Schweigerecht Gebrauch machen soll, in die Erwägungen zur Verteidigungsstrategie einzubeziehen.
Wird für den Mandanten eine Unterbringung angestrebt, dürfte es regelmäßig naheliegen, sich insb. zum Suchtverlauf umfassend zu äußern und auch an der Begutachtung durch einen Sachverständigen (§ 246a Abs. 1 S. 2 StPO) mitzuwirken.
Soll eine Unterbringung dagegen vermieden werden, wird es oftmals sachgerecht sein, insb. zum Rauschmittelkonsum keine Angaben zu machen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass der Angeklagte dem Gericht die zu seiner Unterbringung führenden Gründe "frei Haus" liefert.
Drängt sich allerdings die Suchtproblematik bereits anhand des Akteninhalts geradezu auf, etwa aufgrund zahlreicher Voreintragungen wegen Betäubungsmitteldelikten, verspricht auch Schweigen häufig keinen Erfolg. Das Gericht wird den Hang ggf. bereits aufgrund des Vorlebens des Angeklagten feststellen können. In derartigen Fällen empfiehlt es sich, das Hauptaugenmerk eher auf Faktoren zu richten, die für eine Aussetzung der Unterbringung zur Bewährung sprechen könnten (s.u. IX).
Hinweis:
Bedacht werden muss aber, dass sich Vorgehensweisen, die im Hinblick auf das zu erwartende Strafmaß regelmäßig durchaus erfo...