Die grundsätzliche Legitimität der vorgenannten Grundsätze bei Anwendung standardisierter Messverfahren wird indes – soweit ersichtlich – weder in der Rechtsprechung noch im Schrifttum in Frage gestellt. Fraglich kann insoweit im Einzelfall eher sein (auf tatsächlicher bzw. technischer Ebene), ob die jeweiligen, durch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) zugelassenen Geräte tatsächlich die vorgenannten Anforderungen an ein standardisiertes Messverfahren erfüllen (vgl. zur technischen Ausgestaltung der einzelnen Messverfahren Burhoff/Grün, Messungen im Straßenverkehr, 5. Aufl., 2019). Dementsprechend hat das OLG Oldenburg in seinem Beschl. v. 16.3.2021 – 2 Ss (OWi) 67/21 das Verfahren eingestellt, weil bei dem Messgerät Leivtec XV 3 die Richtigkeit des ermittelten Geschwindigkeitsgrenzwertes zumindest in den Fällen nicht garantiert ist, in denen das sog. Messung-Start-Foto die in der am 14.12.2020 geänderten Gebrauchsanweisung genannten Anforderungen schon nicht erfüllt.
a) Ausgangssituation
Auf rechtlicher Ebene umstritten war vielmehr bis zur Entscheidung des BVerfG, ob dem Betroffenen und seiner Verteidigung ein Einsichtsrecht in die Messunterlagen – namentlich in die Bedienungsanleitung, in die „Lebensakte” des Geräts (vgl. dazu Niehaus in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., 2021), eine ggf. vorhandene Videoaufzeichnung, einen ggf. vorhandenen Messfilm, vorhandene Rohmessdaten der gegenständlichen Messung in unverschlüsselter Form – zusteht oder ob diese die Ergebnisse der Messung letztlich schlicht hinnehmen müssen („black box”). Denn der Betroffene kann den von ihm zu fordernden substantiierten Vortrag nur erbringen, wenn die Verteidigung überhaupt in die Lage versetzt wird, den Messvorgang auf Fehler zu überprüfen (Cierniak/Niehaus DAR 2014, 2; DAR 2018, 541). Dazu bedarf es aber der Einsichtnahme in die o.g. Messunterlagen, denn ohne diese Messunterlagen und Daten ist es dem Betroffenen und seiner Verteidigung als technischen Laien regelmäßig nicht möglich, konkrete Zweifel an der Richtigkeit der Messung zu ermitteln. Um insoweit zunächst einmal Ermittlungen durchzuführen, wird es zum einen der Einsichtnahme in die Messunterlagen bedürfen und sodann der Einschaltung eines (Privat-)Sachverständigen, damit dieser anhand der Messunterlagen die Richtigkeit der Messung überprüfen kann.
Hinweis:
Aufgrund der vorstehenden Grundsätze des standardisierten Messverfahrens und der damit verbundenen „Darlegungslast” des Betroffenen, wenn dieser die Richtigkeit der Messung bestreitet, wird die Einschaltung eines Privatsachverständigen zur Verteidigung des Betroffenen regelmäßig erforderlich sein. Eine Rechtsschutzversicherung wird daher in diesen Fällen regelmäßig eintrittspflichtig sein. Die Verteidigung wird insoweit vor Beauftragung des Sachverständigen eine Kostenzusage der Rechtsschutzversicherung einholen.
Man mag i.Ü. durchaus bezweifeln, ob der hohe Kostenaufwand, der etwa mit der Einholung von Privat-Sachverständigengutachten (i.d.R. auf Kosten der Rechtsschutzversicherung) verbunden ist, stets „sinnvoll” und gerechtfertigt ist. Dies zu beurteilen, ist indes eine Frage, deren Beantwortung nicht den Gerichten obliegt (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.7.2019 – 1 Rb 10 Ss 291/19, NStZ 2019, 620, 622, Rn 27; Cierniak/Niehaus DAR 2018, 541, 544). Eine Verkürzung von Verfahrensrechten lässt sich mit solchen Erwägungen nicht rechtfertigen.
Ohne ein Einsichtsrecht in die Messunterlagen befände sich der Betroffene in einem Teufelskreis (OLG Jena NJW 2016, 1457). Denn von ihm wird, wenn er bestreitet, etwa zu schnell gefahren zu sein, einerseits verlangt, konkrete und belegbare Zweifel an der Richtigkeit der Messung vorzutragen (s.o.). Wie ihm dies andererseits gelingen sollte, wenn ihm gleichzeitig die Einsicht in die Messunterlagen verweigert wird, erschließt sich nicht. Es handelte sich dann um eine „Einladung zum Stabhochsprung, allerdings ohne Stab” (Leitmeier NJW 2016, 1457, 1459).
b) Anspruch des Betroffenen auf Einsicht in die Messunterlagen
Deshalb war schon vor der Entscheidung des BVerfG weitgehend anerkannt, dass entgegen der Auffassung des OLG Bamberg u.a. der Betroffene einen Anspruch auf Einsicht in die Messunterlagen (namentlich die o.g. Unterlagen und Daten) hat, der sich aus dem Akteneinsichtsrecht (§ 46 OWiG i.V.m. § 147 StPO) ergibt, wenn sich die Unterlagen bei der Akte befinden, und aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK), soweit dies nicht der Fall ist.
Denn erst durch das Recht auf Information über diejenigen Umstände, die den Verfolgungsbehörden bekannt sind, entsteht eine „Parität des Wissens”, durch die der Betroffene überhaupt in seine Stellung als Prozesssubjekt einrücken kann (Burhoff/Niehaus in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., 2020, „Akteneinsicht, Umfang, Messunterlagen”; Cierniak/Niehaus DAR 2018, 541 m.w.N.). Ohne einen solchen Gleichstand des Wissens („Waffengleichheit”) ist eine Wahrnehmung der Aufgaben der Verteidigung nicht möglich. Diese wird ohne die Informat...