Die Entscheidung des BVerfG enthält (da ein solcher Fall nicht vorlag und das BVerfG daher auch keine Veranlassung zu Äußerungen zu anderen Fallgestaltungen hatte) keine Ausführungen zu der weiteren umstrittenen Frage, ob das Recht des Betroffenen auf ein faires Verfahren auch dann verletzt wird, wenn die Rohmessdaten von dem zur Anwendung gelangten Messgerät von vornherein nicht gespeichert werden. In diesen Fällen würde daher das Einsichtsrecht des Betroffenen hinsichtlich dieser Daten leerlaufen, denn in etwas nicht Vorhandenes kann Einsicht nicht gewährt werden.

 

Hinweis:

Als Rohmessdaten bezeichnet man die Daten, die von den Hardwaresensoren des Messgeräts bei der physischen Detektion eines Ereignisses generiert werden, bevor diese durch den Computer des Systems durch Berechnung in einen Messwert (z.B. eine gefahrene Geschwindigkeit oder einen Abstand) umgesetzt werden.

1. Verwertungsverbot bei Nichtspeicherung von Rohmessdaten?

Der VerfGH des Saarlandes hat in seinem Urteil vom 5.7.2019 (Lv 7/17, NJW 2019, 2456) einen Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren in diesen Fällen angenommen. Denn wenn das verwendete Gerät (im Fall des VerfGH: Traffistar S 350) die Datensätze nicht bereitstelle, dann könne der Betroffene das Messergebnis nicht sinnvoll überprüfen (s.o.). Er müsse dann das Messergebnis letztlich „auf Gedeih und Verderb” hinnehmen. Dies sei rechtsstaatlich nicht hinnehmbar. Die Folge wäre ein Beweisverwertungsverbot hinsichtlich des Messergebnisses (a.A. OLG Schleswig, Beschl. v. 20.12.2019 – II OLG 65/19 = VRR 2/2020, 25 m. krit. Anm. Niehaus).

Der VerfGH zieht in seiner Entscheidungsbegründung u.a. eine – nach hiesigem Dafürhalten systematisch durchaus überzeugende – Parallele zu den Entscheidungen des BVerfG zur Verwendung elektronischer Wahlsysteme („Wahlcomputer”, BVerfGE 123, 39 ff.). Dort hatte das BVerfG u.a. aus der fehlenden Überprüfbarkeit der Zählung durch den Computer hergeleitet, dass die Verwendung dieser Systeme rechtsstaatlich nicht hinnehmbar sei. Es liegt im Wesen eines systematischen Arguments bzw. Vergleichs, dass die Parallele mit einer anderen Konstellation gezogen wird. Insoweit vermag es nicht recht zu überzeugen, wenn dem VerfGH des Saarlandes ebendies vorgehalten wird (es handele sich bei dem Wahlakt um eine „demokratierelevante Sondersituation”, die „mit der „Situation eines gerichtlichen Verfahrens (...) nicht vergleichbar” sei, OLG Schleswig, Beschl. v. 2012.2019 – II OLG 65/19 = VRR 2/2020, 25 m. krit. Anm. Niehaus; vgl. auch OLG Karlsruhe, Beschl. v. 8.1.2020 – 3 Rb 33 Ss 763/19).

Gemeinsam ist beiden Konstellationen, dass die zunehmende Verwendung digitalisierter Verfahren die – vom VerfGH des Saarlandes zu Recht herausgearbeitete – Frage aufwirft, ob der Bürger gehalten ist, die für ihn mit gravierenden Rechtsfolgen verbundenen Ergebnisse der Verwendung automatisierter Verfahren hinzunehmen, ohne ihr Zustandekommen überprüfen zu können. Viel spricht dafür, dass dies nicht nur beim Wählen, sondern auch dann, wenn der Staat den Bürger immerhin wegen eines vermeintlichen Fehlverhaltens repressiv mit Sanktionen belegt, nicht den Anforderungen eines fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens entspricht.

2. Ablehnende Haltung der Oberlandesgerichte

In der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte ist die Entscheidung des VerfGH des Saarlandes bisher einhellig auf Ablehnung gestoßen (BayObLG, Beschl. v. 4.1.2021 – 202 ObOWi 1532/20 = VRR 1/2021, 14; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 8.1.2020 – 3 Rb 33 Ss 763/19; OLG Oldenburg, Beschl. v. 9.9.2019 – 2 Ss (Owi) 233/19 [ES 8.0: das dortige Gerät speicherte die Rohmessdaten]; OLG Stuttgart, Beschl. v. 18.7.2019 – 6 Rb 28 Ss 618/19 [dort hatte der Betroffene das Fehlen von Rohmessdaten nicht gerügt]; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 23.7.2019 – 1 OWi 2 Ss Rs 68/19 [Poliscan Speed: speichert Rohmessdaten]; OLG Köln, Beschl. v. 27.9.2019 – III-1 RBs 362/19 [Traffistar: die vom VerfGH des Saarlandes aufgestellten Anforderungen an ein faires Verfahren seien „überzogen”]; OLG Hamm, Beschl. v. 13.2.2020 – 1 RBs 255/19; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 10.3.2020 – IV-2 RBs 30/20 und v. 27.4.2020 – IV-2 RBs 61/20; OLG Schleswig, Beschl. v. 5.6.2019 – I OLG 123/19; OLG Brandenburg, Beschl. v. 27.1.2020 – (1 Z) 53 Ss-OWi 13/20 (13/20)).

Wesentlich mehr als die Bagatellisierung ordnungswidrigkeitenrechtlicher Sanktionen (vgl. OLG Schleswig, Beschl. v. 20.12.2019 – II OLG 65/19 = VRR 2/2020, 25 m. krit. Anm. Niehaus; OLG Köln, a.a.O.) und den Hinweis darauf, dass die übrigen Oberlandesgerichte dem VerfGH des Saarlandes auch nicht gefolgt sind, haben die Begründungen dieser Rechtsbeschwerdeentscheidungen aber – soweit ersichtlich – dem Urteil des VerfGH des Saarlandes bisher oft kaum entgegenzusetzen (eine Ausnahme bildet insoweit der Beschl. des OLG Karlsruhe v. 8.1.2020 – 3 Rb 33 Ss 763/19, das zur Begründung u.a. ausführt, durch das Konformitätsbewertungsverfahren bei der PTB werde die Gewährleistung eines richtigen Messergebnisses von der Einzelfallmessung auf das Messgerät selbst „vorverlagert”).

Auch insoweit wird es absehbar einer Entscheidung des BVerfG bed...

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