Wer ordnungsgemäß zum Überholen einer Kolonne angesetzt hat, hat gegenüber ausscherenden Fahrzeugen aus der Kolonne Vorrang, auch wenn im weiteren Verlauf die Absicht, links abzubiegen, erkennbar wird. Das Überholen einer großen Kolonne von neun bis zehn Fahrzeugen, ohne dass eine unklare Verkehrslage vorliegt, ist grds. erlaubt und führt nicht zu einem Mitverschulden. Gegebenenfalls kommt jedoch eine erhöhte Betriebsgefahr zum Ansatz (OLG Celle NJW 2022, 3086 = zfs 2022, 442 = NZV 2023m 46 [Bachmor]).
Hinweis:
Zum Überholen durch Kfz im Stadtverkehr Hilpert-Janßen, NZV 2022, 457.
Der gegen den Auffahrenden grds. sprechende Anscheinsbeweis ist entkräftet, wenn der Vorausfahrende im unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Unfall vorher den Fahrstreifen gewechselt hat. Der zeitliche Zusammenhang zwischen dem Spurwechsel und dem Auffahren ist selbst dann noch nicht unterbrochen, wenn sich vorausfahrende Fahrstreifenwechsler zum Zeitpunkt der Kollision etwa fünf Sekunden auf dem Fahrstreifen des Auffahrenden befunden haben (OLG Schleswig NJW 2023, 370). Bei einem Kettenauffahrunfall greift ein Anscheinsbeweis nur dann, wenn feststeht, dass das vorausfahrende Fahrzeug rechtzeitig hinter seinem Vordermann zum Stehen gekommen ist. Beim Letztauffahrenden kann ein Anscheinsbeweis bejaht werden, wenn es sich um einen „herkömmlichen” Auffahrunfall handelt und ausgeschlossen ist, dass er seinerseits auf die vorausfahrenden Fahrzeuge aufgeschoben worden ist (LG Osnabrück zfs 2022, 316 = NZV 2022, 534 [Bachmor]).
Hinweis:
Auffahren, Spurwechsel und die Typizität beim Anscheinsbeweis beschreibt Neumann, NJW 2023, 332.
Behindert oder gefährdet ein linksabbiegender Fahrer an einer Kreuzung den ihm entgegenkommenden, rechtsabbiegenden Fahrzeugführer, so liegt eine Vorfahrtverletzung gem. § 9 Abs. 4 S. 1 StVO vor und kein Spurwechsel i.S.d. § 7 Abs. 5 StVO, selbst wenn die Straße, in die abgebogen werden soll, zweispurig ist, da durch den bevorrechtigten Rechtsabbieger lediglich ein Überfahren von Leitlinien bei der Ausübung des Vorfahrtrechtes erfolgt (AG Brandenburg NZV 2022, 536 [Lempp]; zum Spurwechsel auf der Vorfahrtstraße eingehend Siegel, DAR 2022, 677). Derjenige, dem ein grüner Pfeil das Linksabbiegen gestattet, darf darauf vertrauen, dass Gegenverkehr durch Rotlicht gesperrt ist und Fahrzeuge aus der Gegenrichtung das für sie geltende Haltegebot beachten. Dieser Vertrauensgrundsatz wird nicht dadurch beseitigt, dass nach Passieren der Ampel für den Linksabbieger die Anlage ausfällt. Ein Idealfahrer hätte aus dem mit dem Ampelausfall einhergehenden Ausfall des Ampellichts der Fußgängerampel, der für die Linksabbieger erkennbar war, geschlossen, dass es eine Fehlfunktion der Ampelschaltung gibt. Ein unabwendbares Ereignis liegt deshalb nicht vor (OLG Schleswig zfs 2023, 14 = VRR 12/2022, 11 [Burhoff]). Die Voraussetzungen des Anscheinsbeweises nach § 8 StVO liegen auch dann vor, wenn der Wartepflichtige im Einmündungsbereich mit einem Vorfahrtberechtigten zusammenstößt, der rückwärtsfährt. Ohne Belang ist, ob der Wartepflichtige im Zeitpunkt der Kollision mit dem Vorfahrtberechtigten bereits stand, solange er nicht nachweisen kann, dass der Stillstand bereits so lange andauerte, dass sich der Vorfahrtberechtigte hierauf hätte einstellen können. Demgegenüber ist das Rückwärtsfahren gem. § 9 Abs. 5 StVO grds. nur zulässig, wenn eine Gefährdung anderer ausgeschlossen ist (LG Hamburg NZV 2022, 490 [Bachmor]).
Für die Anwendung des aus § 9 Abs. 5 StVO folgenden Anscheinsbeweises kann es dahinstehen, ob das Fahrzeug noch gerade im Wendevorgang begriffen oder schon gerade und vollständig auf der angesteuerten Spur angekommen war. Maßgeblich ist nicht die genaue Position auf der Fahrbahn, sondern die Frage, ob noch ein unmittelbarer zeitlicher und örtlicher Zusammenhang mit dem vorangegangenen Wendemanöver besteht (LG Lübeck NZV 2022, 583 [Bachmor]).
Die Vorfahrtsregel des § 8 Abs. 1 S. 1 StVO („rechts vor links”) findet auf öffentlichen Parkplätzen ohne ausdrückliche Vorfahrtsregelung weder unmittelbar noch i.R.d. Pflichtenkonkretisierung nach § 1 Abs. 2 StVO Anwendung, soweit den dort vorhandenen Fahrspuren kein eindeutiger Straßencharakter zukommt (BGH DAR 2023, 137 m. Anm. Freymann; zuvor bereits OLG Frankfurt a.M. DAR 2022, 560 = zfs 2022, 446 = NJW-RR 2022, 1194). Auf Parkplätzen und parkplatzähnlichen Geländen findet über § 1 Abs. 2 StVO der Anscheinsbeweis aus § 9 Abs. 5 StVO, wonach beim Rückwärtsfahren eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen ist, entsprechende Anwendung. Fährt ein Verkehrsteilnehmer mit seinem Pkw aus einer schräg zur Fahrgasse angeordneten Parklücke rückwärts heraus und kollidiert hierbei mit einem verbotswidrig und zu eng an seinem Fahrzeug abgestellten Pkw, ist eine Haftungsverteilung von 90:10 zulasten des rückwärts Ausparkenden sachgerecht (OLG Schleswig VRS 142 = 308 = NZV 2022, 532 [Bachmor]). Auf den Zufahrtswegen und dem Bereich der Abflugebene eines Flughafenge...