Das BSG hatte sich (Urt. v. 3.11.2021 – B 11 AL 6/21 R) mit der Klage eines Arbeitgebers mit Sitz und Betrieb in Deutschland zu befassen, der für die von ihm Beschäftigte, in Frankreich wohnende Arbeitnehmerin höheres KUG verlangte, als die beklagte Bundesagentur für Arbeit (BA) bewilligt hatte.
Hinweis:
Obwohl § 95 Abs. 1 SGB III die AN als Inhaber des KUG-Anspruchs ausweist, sind nicht sie, sondern nur die AG und die Betriebsvertretung anzeige- und antragsberechtigt (§§ 99 Abs. 1 S. 2, 323 Abs. 2 S. 1 u. 2 SGB III). Ferner sind AN nach der Rechtsprechung des BSG auch verfahrensrechtlich von der Geltendmachung im Widerspruchs- bzw. Klageverfahren ausgeschlossen (Urt. v. 25.5.2005 – B 11 AL 15/04, NZS 2006, 378, kritisch hierzu Bieback in: Gagel, SGB II/SGB III, § 95 SGB III Rn 88 ff.). Allerdings erwägt das BSG, a.a.O. Rn 21, ob in außergewöhnlichen Umständen, wie z.B. in einem betriebsratlosen Betrieb, AN ein Klagerecht zustehen könnte.
Die Beklagte hatte für die Berechnung des KUG ausgeführt, auch für Grenzgänger, die aufgrund des aktuellen Doppelbesteuerungsabkommens zwischen Deutschland und Frankreich von der Lohnsteuerpflicht in Deutschland befreit seien, gelte der in § 153 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB III vorgesehene pauschalierte Lohnsteuerabzug (§ 153 SGB III ist entsprechend anwendbar; auch für die Höhe des KUG gem. § 106 Abs. 1 S. 6 SGB III) selbst dann, wenn das nach deutschem Recht gezahlte KUG in Frankreich besteuert würde. Grenzgänger – zum Begriff s. Art. 1 f VO (EG) Nr. 883/2004 – aus den Mitgliedstaaten der EU müssten bei der Bemessung des KUG genauso wie deutsche Arbeitnehmer behandelt werden. Beschränkt Steuerpflichtige, wie die Klägerin, würden in Steuerklasse I eingereiht. Demnach sei das Leistungsentgelt – dieses ist Grundlage für die Höhe des ALG nach § 149 SGB III und des KUG nach § 105 SGB III – um die pauschalierten Abzüge, also auch um fiktive Steuern, zu vermindern. Die Klage blieb in den Vorinstanzen erfolglos.
Die Revision der Klägerin hat i.S.d. Aufhebung und Zurückverweisung Erfolg. Das BSG lässt zunächst offen, ob die in § 95 S. 1 SGB III genannten Voraussetzungen für einen Anspruch auf KUG vorliegen. Gleiches gilt hinsichtlich der persönlichen Voraussetzungen (§ 98 SGB III). Hierzu wird das LSG im wiedereröffneten Berufungsverfahren weitere Feststellungen zu treffen haben. Nach Rn 15 ff. der Entscheidung wird das LSG hierbei, so das BSG, davon auszugehen haben, dass nach dem Doppelbesteuerungsabkommen Deutschland-Frankreich in der Fassung ab dem 1.1.2016 auch Sozialleistungen im Wohnsitzstaat, im Falle der Klägerin also in Frankreich, zu versteuern sind. Da für sie aber in Deutschland insoweit keine Steuerpflicht besteht, könne bei der Berechnung der Höhe der Leistung keine Zuordnung zu einer Steuerklasse vorgenommen werden. Hierzu biete der Wortlaut des § 153 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB III i.V.m. den Vorschriften des EStG keinen Anhalt. Ziel der Sozialleistung KUG sei u.a., eine Lohnersatzleistung zur Verfügung zu stellen, die den Verdienstausfall zwar pauschaliert, aber dennoch individuell, also in Anlehnung an den tatsächlichen Nettoverdienstausfall ausgleicht. Dementsprechend sei es system- und sachgerecht, bei nicht bestehender Steuerpflicht auch keine Lohnsteuerklasse zu berücksichtigen. Soweit der pauschalierte Abzug für Lohnsteuer mit 0 EUR demnach zu erfolgen hat, ergibt sich auch kein pauschalierter Abzug nach § 153 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB III für einen Solidaritätszuschlag, auch dieser wäre dann mit null anzusetzen.
Das BSG begründet seine Auffassung unter Hinweis auf europäische Rechtsvorschriften in Art. 45 AEUV, der zentralen Norm für die Etablierung der Freizügigkeit in der EU, als Recht der Unionsbürger, sich in jedem Mitgliedsstaat selbstständig oder unselbstständig wirtschaftlich betätigen zu können (s. etwa Fuchs in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Teil 1, Rn 10 ff. m.w.N.), und in Art. 7 VO – EG 492/12 (nach Abs. 2 dieser Norm genießen Arbeitnehmer, die Staatsangehörige eines Mitgliedsstaates sind, im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedsstaaten die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen).
Der in der VO niedergelegte Gleichbehandlungsgrundsatz verbiete nicht nur unmittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle mittelbaren Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zum gleichen Ergebnis führen. Das BSG hält eine Vorschrift des nationalen Rechts (hier: § 153 Abs. 1 SGB III) unter Hinweis auf Rechtsprechung des EuGH dann als mittelbar diskriminierend, wenn sie sich ihrem Wesen nach stärker auf Wanderarbeitnehmer, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen, als auf inländische Arbeitnehmer auswirken kann und folglich die Gefahr besteht, dass so diese Arbeitnehmer besonders benachteiligt werden (so auch Bieback in: Gagel, SGB II/SGB III, § 95 SGB III Rn 6 ff.).
Hinweise:
- Die Ausführungen des Gerichts gelten ebenfalls für Ansprüche auf Arbeitslosengeld bei Grenzgängern i.S.v...