Voraussetzung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld II (ALG II) und seit dem 1.1.2023 auf Bürgergeld war und ist u.a. Hilfebedürftigkeit der leistungsberechtigten Person. Hilfebedürftig ist sie, wenn ihr Bedarf nach den §§ 20 ff. SGB II nicht durch Einkommen und Vermögen gedeckt ist. Nur soweit dies nicht der Fall ist, besteht ein Anspruch auf ALG II/Bürgergeld. Zum anzurechnenden Einkommen wird grds. alles gezählt, was im Bedarfszeitraum zufließt. Dies wird durch die Neufassung von § 11 Abs. 2 SGB II i.d.F. des Bürgergeldgesetzes bestätigt. Einige Einnahmen werden durch § 11a SGB II, § 1 Bürgergeld-VO (bis 31.12.2022: ALG-II-VO) und spezialgesetzliche Ausnahmeregelungen von der Anrechnung ausgenommen. Außerdem werden nach der Rspr. Ansprüche nicht als Einkommen angerechnet, bei denen mit einer alsbaldigen Erfüllung nicht zu rechnen ist (sog. nicht bereite Mittel).
In dem hier zu besprechenden Verfahren war streitig, ob und in welchem Umfang Trinkgeld auf das ALG II angerechnet werden darf. Das BSG verneinte dies in seinem Urt. v. 13.7.2022 (B 7/14 AS 75/20 R; s. hierzu auch Meißner, jurisPR-SozR 5/2023 Anm. 1), wenn das Trinkgeld bestimmte Betragsgrenzen nicht überschreitet.
Die 1977 geborene im ALG-II-Bezug stehende Klägerin übte während des Leistungsbezugs eine Tätigkeit im Service einer Gaststätte aus. Der Beklagte rechnete neben der Vergütung aus dieser Tätigkeit zusätzlich das hierbei erhaltene Trinkgeld auf das ALG II an. Unter anderem hiergegen klagte sie. Die Klage und die Berufung blieben bezüglich der Anrechnung des Trinkgelds ohne Erfolg. Hiergegen richtete sich ihre Revision.
Als Rechtsgrundlage für die Nichtanrechnung des Trinkgelds kam v.a. § 11a Abs. 5 Nr. 2 SGB II in Betracht. Nach dieser Vorschrift werden Zuwendungen anderer an die leistungsberechtigte Person, die nicht auf einer rechtlichen oder sittlichen Pflicht beruhen, von der Einkommensanrechnung ausgenommen, „soweit (...) 2. sie die Rechtslage der Leistungsberechtigten nicht so günstig beeinflussen, dass daneben Leistungen nach diesem Buch nicht gerechtfertigt wären.”
Das BSG qualifizierte das Trinkgeld nicht als Erwerbseinkommen, sondern als eine Zuwendung. Deren Kennzeichen sei die „Freiwilligkeit der Gabe”. Eine rechtliche Verpflichtung der Gäste zur Zahlung eines Trinkgelds verneinte es. Ein hierfür erforderliches gegenseitiges Rechtsverhältnis bestünde zwischen der Servicekraft und den Gästen nicht. Dieses Ergebnis werde auch durch arbeitsgerichtliche und finanzgerichtliche Rspr. bestätigt. Das BSG sah ferner keine sittliche Verpflichtung der Gäste zur Zahlung eines Trinkgelds. Hierzu wäre nach seinen Ausführungen eine Beziehung zwischen dem Zuwendenden und dem Zuwendungsempfänger erforderlich, die es zwingend geboten erscheinen lässt, den anderen zu unterstützen. Eine solche Beziehung bestünde bei Gästen einer Gaststätte gegenüber einer Servicekraft nicht.
Schließlich ist Voraussetzung des § 11 Abs. 5 SGB II, dass die Anrechnung grob unbillig ist (Nr. 1) oder die Einnahme die Lage der leistungsberechtigten Person nicht so günstig beeinflusst, dass daneben eine Leistung nach dem SGB II nicht gerechtfertigt ist (Nr. 2). Von grober Unbilligkeit ist dann auszugehen, wenn der objektiv mit der Leistung verfolgte Zweck bei einer Anrechnung auf die existenzsichernde Leistung vereitelt würde. In dieser Auslegung sieht sich das BSG durch die Gesetzesmaterialien bestätigt (Rn 27 f. der Urteilsgründe). Im Ergebnis verneinte das BSG grobe Unbilligkeit, weil beim Trinkgeld eine Zweckbestimmung fehlt, die seiner Verwendung zur Sicherung des Lebensunterhalts entgegensteht.
Ob eine Zuwendung die Lage der leistungsberechtigten Person nicht so günstig beeinflusst, dass daneben Leistungen nach dem SGB II nicht gerechtfertigt wären (§ 11 Abs. 5 Nr. 2 SGB II), richtet sich nach der Höhe der Zuwendung. In der Gesetzesbegründung wurde beispielhaft ein geringes monatliches Taschengeld der Großeltern genannt (BT-Drucks 17/3404, 95). Hieraus folgt nach den Ausführungen des BSG indessen nicht, dass zwischen Zuwendendem und Zuwendungsempfänger ein Näheverhältnis bestehen muss. Dem steht bereits der Gesetzeswortlaut entgegen, der auf ein solches Erfordernis keinen Hinweis enthält. Ob die Lage der leistungsberechtigten Person zu günstig beeinflusst wird, ist nach der Urteilsbegründung nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen. Dennoch nimmt das BSG andere Freibetragsgrenzen im SGB II und in der ALG-II-VO in den Blick und spricht sich dafür aus, sich an § 42a Abs. 2 S. 1 SGB II zu orientieren.
Hinweis:
Diese Vorschrift legt die monatliche Höhe der Aufrechnung bei einem zurückzuzahlenden Darlehen i.H.v. 10 % der maßgebenden Regelleistung fest. Ab 1.7.2023 wird dieser Betrag durch das Bürgergeld-Gesetz auf 5 % der maßgebenden Regelleistung abgesenkt.
Den dort geregelten Betrag hält das BSG für am besten geeignet, da der Abstand zu § 11b Abs. 2 SGB II und die Erwerbsanreizfunktion gewahrt werde. Der Freibetrag i.H.v. 100 EUR nach § 11b Abs. 2 SGB II sei wegen seine Z...