Der Kläger beantragte von der beklagten Berufsgenossenschaft die Gewährung einer Verletztenrente wegen der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in Folge eines Arbeitsunfalls und behauptete, bei ihm bestehe eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Das LSG stützte in seiner Entscheidung v. 29.8.2019 die Feststellung, in der Person des Klägers habe zu keiner Zeit eine PTBS vorgelegen, auf die 4. Auflage des Diagnosesystems DSM (Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen der amerikanischen psychiatrischen Vereinigung), obwohl die 5. Auflage bereits 2013 in den USA veröffentlicht wurde und seit 2014 in der deutschen Fassung vorliegt. Die Revision des Klägers führte zur Aufhebung und Zurückverweisung durch das BSG (s. BSG v. 28.6.2022 – B 2 U 9/20 R).
Das Gericht sieht sich nicht in der Lage, abschließend zu beurteilen, ob das LSG eine rentenbegründende MdE von mind. 20 v.H. (s. insoweit grds. § 56 Abs. 1 S. 1 SGB VII; bei mehreren Versicherungsfällen, die die Erwerbsfähigkeit um mind. 10 v.H. mindern, ist es ausreichend, dass die MdE von mind. 20 durch eine Addition der Vomhundertsätze erreicht wird, s. S. 2 u. 3 der Norm) infolge des Versicherungsfalls zu Recht verneint hat. Es führt aus, i.R.d. Bemessung der MdE seien die Gesundheitsschäden genau zu definieren. Im Bereich psychischer Störungen setze dies zwingend voraus, dass die Störung durch Einordnung in mind. eines der gängigen Diagnosesysteme unter Verwendung der dortigen Schlüssel und Bezeichnungen exakt beschrieben wird, etwa durch das ICD (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) oder das bereits erwähnte DSM. Hierbei, ebenso bei den hierzu ergangenen konsensbasierten Begutachtungsrichtlinien der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), handelt es sich um sog. generelle Tatsachen (s. hierzu Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt/Leitherer, SGG, § 163, Rn 7 m.w.N.), die entgegen § 163 SGG auch ohne Rügen vom Revisionsgericht selbst zu überprüfen sind. Die Kontrolle hat sich darauf zu erstrecken, ob ICD, DSM und die Begutachtungsleitlinien dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprechen.
Das BSG beanstandet, die Berufungsentscheidung stütze sich auf das DSM-IV und ziehe nicht den seit Mai 2013 im DSM-V enthaltenen aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand heran. Zwar mögen für eine gewisse Zeitspanne vor dem Hintergrund des wissenschaftlichen Diskurses noch Zweifel begründet sein können, ob die neuen Diagnosekriterien bereits den aktuellen Erkenntnisstand im Sinne der Mehrheit der Wissenschaftler des jeweiligen Fachgebiets wiedergeben. In Rn 27 der Entscheidung für das BSG dann aus, dass jedenfalls im Jahre 2019 eine derartige Übergangszeit offenkundig abgelaufen war und die Gültigkeit des DSM-V als aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisstand wissenschaftlich nicht mehr allgemein angegriffen wird.
Ob sich das Urteil des LSG auch auf dieser Grundlage als richtig erweist – dann wäre die Revision ebenfalls zurückzuweisen gem. § 170 Abs. 1 S. 2. SGG –, kann ohne weitere Sachermittlungen nicht entschieden werden. Für die Diagnose einer PTBS unterscheiden sich, trotz im Ausgangspunkt bestehender Vergleichbarkeit, die konkreten Kriterien sowohl des ICD-10 als auch des DSM-V erkennbar von denen des DSM-IV. Den Tatsachengerichten und auch dem BSG ist bei fehlender Sachkunde verwehrt, medizinische Beurteilungen selbst vorzunehmen. Vielmehr hat die Ermittlung medizinischer Sachverhalte regelmäßig unter Heranziehung sachverständiger Hilfe zu erfolgen (s. nur BSG v. 6.9.2018 – B 2 U 13/17, juris Rn 22 u. BSG v. 17.4.2013 – B 9 V 1/12 R, juris Rn 45). Demnach wird das LSG nach der Zurückverweisung auf Grundlage des im Zeitpunkt der erneuten Entscheidung aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands das Vorliegen einer PTBS unter Zuhilfenahme geeigneter Sachverständiger zu prüfen haben. Zu den Hinweisen, die das BSG insoweit gibt, s. Rn 33 ff. des Urteils.
Hinweise:
- Das Berufungsgericht hat vorliegend die Anwendung des Diagnosesystems DSM-IV (statt DSM-V) nicht begründet. Der 6. Senat des LSG Stuttgart spricht hingegen in ständiger Rechtsprechung dem DSM-V pauschal die Validität für die Feststellung der PTBS ab (s. bereits LSG Stuttgart v. 27.8.2015 – L 6 VS 4569/14 und nunmehr v. 2.6.2022 – L 6 VG 2740/21). Der 2. Senat des BSG lehnt diese Auffassung ausdrücklich ab und führt aus, bei den vom LSG zur Begründung herangezogenen Fundstellen handele es sich um wissenschaftliche Stellungnahmen aus den Jahren 2013 und 2015, die als Einzelmeinungen den im DSM-V abgebildeten aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft nicht erschüttern und überdies durch aktuellere wissenschaftliche Äußerungen überholt sind (B 2 U 9/20 R, juris Rn 28).
- Spellbrink hat die Entscheidung des LSG Stuttgart v. 2.6.2022 in jurisPR-SozR 22/22 Anm. 5 kritisch besprochen – „Alltagstheorien über das Vorliegen einer PTBS” – und hierbei grundsätzliche verfahrensrechtliche...