Grundsätzlich findet im Strafverfahren eine Hauptverhandlung nicht ohne den Angeklagten statt (s.o. I.), da dieser aufgrund seiner Anwesenheitspflicht an der Hauptverhandlung teilnehmen muss. Erscheint der Angeklagte aber in der Hauptverhandlung nicht (s.o. II.), stellt sich für den Verteidiger die Frage, ob er, um die dann u.U. nach § 230 Abs. 2 StPO drohenden Zwangsmittel gegen den Mandanten zu verhindern, darauf drängen soll, ggf. auch ohne diesen zu verhandeln. Dazu ist auf folgende Möglichkeit hinzuweisen:
Nach § 232 Abs. 1 S. 1 StPO kann das Gericht ohne den (ausgebliebenen) Angeklagten verhandeln, wenn er ordnungsgemäß geladen (s.o. III.) und in der Ladung darauf hingewiesen worden ist (dazu Meyer-Goßner/Schmitt, § 232 Rn 5 m.w.N.; dazu auch III.3.b), dass in seiner Abwesenheit verhandelt werden kann. Außerdem ist der Angeklagte darüber zu belehren, dass als Rechtsfolge nur Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen, Verwarnung mit Strafvorbehalt, Fahrverbot, Einziehung, Vernichtung oder Unbrauchbarmachung zu erwarten ist. Eine höhere Strafe oder eine Maßregel der Besserung oder Sicherung darf das Gericht in diesem Fall nicht verhängen. Die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB ist nach § 233 Abs. 1 S. 3 StPO zulässig, wenn auf die Möglichkeit in der Ladung hingewiesen worden ist. Das Belehrungsgebot gilt auch für eine Umladung, es genügt nicht nur der Hinweis auf die in einer früheren Ladung enthaltene Belehrung (OLG Köln, StV 1996, 12 m.w.N.).
Hinweis:
Das Gericht darf nur dann nach § 232 StPO ohne den Angeklagten verhandeln, wenn er eigenmächtig, also schuldhaft, ausgeblieben ist (Meyer-Goßner/Schmitt, § 232 Rn 11; OLG Karlsruhe, StraFo 2001, 415; s.a. BGH, Beschl. v. 25.7.2011 – 1 StR 631/10, BGHSt 56, 298; zum Ausbleiben s.o. II./IV., insoweit gelten die Ausführungen bei IV. entsprechend).
Die Voraussetzungen an das Verschulden des Angeklagten sind strenger als bei § 329 StPO (dazu Burhoff, HV, Rn 792 ff., 809 ff.). Die Abwesenheit des Angeklagten i.S.v. § 232 Abs. 1 StPO muss auf einer wissentlichen Verletzung der Anwesenheitspflicht beruhen (BGH, 2011, a.a.O. für § 231 Abs. 2 StPO; OLG Karlsruhe, StraFo 2001, 415; s.a. noch BGH, Beschl. v. 19.8.2021 – 4 StR 410/20).
Die Hauptverhandlung ohne den Angeklagten wird im Fall des § 232 StPO weitgehend nach den allgemeinen Regeln durchgeführt. Es gelten aber folgende Besonderheiten:
- Das Verfahren kann nach § 153 Abs. 2 S. 2 StPO auch ohne Zustimmung des Angeklagten eingestellt werden.
- Der Verteidiger kann die in § 234a StPO aufgeführten Erklärungen abgeben.
- Werden Hinweise nach § 265 Abs. 1 oder 2 StPO notwendig, können sie dem Verteidiger erteilt werden, wenn er an der Hauptverhandlung teilnimmt (§ 234a StPO), sonst muss die Hauptverhandlung abgebrochen und fortgesetzt werden, nachdem dem Angeklagten der Hinweis erteilt worden ist. Für das Gericht besteht aber unter dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens die Verpflichtung, von Amts wegen oder auf Antrag des Verteidigers die Hauptverhandlung auszusetzen, wenn wegen der veränderten Sach- oder Rechtslage die sachgerechte Verteidigung eine Besprechung des Verteidigers mit dem Mandanten erfordert (OLG Naumburg, VA 2016, 85).
- Existiert eine richterliche Beschuldigtenvernehmung des Angeklagten, muss diese gem. § 232 Abs. 3 StPO verlesen werden, sofern der Angeklagte nicht gem. § 234 StPO durch einen Verteidiger vertreten wird (Meyer-Goßner/Schmitt, § 232 Rn 15 m.w.N.). Protokolle über Zeugenvernehmungen des Angeklagten in anderen Verfahren dürfen nicht verlesen werden.
Erscheint der Angeklagte nachträglich in der Hauptverhandlung, muss der Vorsitzende ihn zur Person und zur Sache vernehmen und ihm das bisherige Verhandlungsergebnis mitteilen. Die Hauptverhandlung braucht aber nicht wiederholt zu werden (Meyer-Goßner/Schmitt, § 232 Rn 21 m.w.N.).
Hinweis:
Wenn der Angeklagte nachträglich erscheint, ist das Gericht nicht mehr an die (Rechtsfolgen-)Beschränkungen des § 232 Abs. 1 S. 1 StPO gebunden. Es kann also eine höhere Strafe verhängen.
Ist gem. § 232 StPO ohne den Angeklagten verhandelt worden, kann er unabhängig von der Anfechtung eines Urteils mit der Berufung oder der Revision nach § 235 StPO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragen. Voraussetzung ist, dass er den Termin ohne Verschulden nicht wahrgenommen hat.
ZAP F., S. 443–456
Von Rechtsanwalt Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg