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Die Frage nach dem Verhältnis von Zivil- und Steuerrecht beschäftigt Rechtsprechung und Rechtswissenschaft schon seit über hundert Jahren. Gerade im Erbschaftsteuerrecht hat sie durch eine aktuelle Entscheidung des BFH (Az. II R 14/16) zur Steuerbefreiung für Familienheime sowie ein weiteres am BFH anhängiges Verfahren hierzu (Az. II R 29/19) an praktischer Bedeutung gewonnen.
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Im Rahmen dieser zweiteiligen Aufsatzreihe wird im ersten Teil zunächst das Spannungsverhältnis zwischen Zivilrechtsakzessorietät und wirtschaftlicher Betrachtungsweise im Erbschaftsteuerrecht untersucht. Es wird insbesondere dargestellt, inwiefern das Erbschaftsteuerrecht mit dem Zivilrecht verknüpft ist und welche Folgen sich hieraus für die Auslegung ergeben. Im zweiten Teil der Reihe werden die abstrakten Erkenntnisse auf das besonders praxisrelevante Beispiel der Steuerbefreiung für Familienheime angewandt und die Rechtsprechung der Finanzgerichte wird kritisch überprüft.
I. Einleitung
Seit seiner Entstehung wird dem Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht eine besondere Nähe zum Zivilrecht zugeschrieben. Die Rechtsprechung spricht von einer bürgerlich-rechtlichen Prägung des Erbschaftsteuerrechts. Die ehemalige Vorsitzende Richterin des für das Erbschaftsteuerrecht zuständigen II. Senats am Bundesfinanzhof geht einen Schritt weiter. Meßbacher-Hönsch zufolge ist "die zivilrechtliche Auslegung regelmäßig auch für das Erbschaftsteuerrecht maßgebend". Auch gewichtige Stimmen aus der Literatur gehen von einer "Maßgeblichkeit des Zivilrechts für das Erbschaftsteuerrecht" aus.
Angesichts dieser bürgerlich-rechtlichen Prägung stellt sich die Frage, ob und unter welchen Umständen die sogenannte wirtschaftliche Betrachtungsweise im Erbschaftsteuerrecht zulässig ist. Unter der wirtschaftlichen Betrachtungsweise versteht man heute die am wirtschaftlichen Zweck einer Norm orientierte teleologische Auslegung. Zudem wird unter dem Stichwort der wirtschaftlichen Betrachtungsweise auch die mit der Auslegung zusammenhängende Frage diskutiert, welche Bedeutung die privatrechtliche Qualifikation eines Sachverhalts für dessen steuerrechtliche Beurteilung hat.
II. Die Auslegung zivilrechtlicher Begriffe im Steuerrecht allgemein
1. Das Verhältnis des Zivilrechts zum Steuerrecht
Im Steuerrecht allgemein ist heute anerkannt, dass Zivilrecht und Steuerrecht gleichrangige, nebengeordnete Rechtsgebiete sind, die allein dem Grundgesetz untergeordnet sind. Das Zivilrecht steht zum Steuerrecht nicht in einem Verhältnis des Vorrangs, sondern in einem Verhältnis der Vorherigkeit. Das Zivilrecht ermöglicht wirtschaftliches Handeln, das Steuerrecht unterwirft den Erfolg des wirtschaftlichen Handelns der Besteuerung.
2. Relativität der Rechtsbegriffe
Nicht selten verwendet der Gesetzgeber in Steuergesetzen Begriffe, die ursprünglich aus dem Zivilrecht bekannt sind. Beispiele hierfür sind die Gesellschaft in § 15 Abs. 1 Nr. 2 S. 1 EStG, die Vermietung in § 4 Nr. 12 lit. a UStG und das Vermächtnis in § 3 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG. Begriffe müssen jedoch innerhalb einer einheitlichen Rechtsordnung nicht immer dieselbe Bedeutung haben. So unterscheiden sich beispielsweise der zivilrechtliche und der strafrechtliche Fahrlässigkeitsbegriff. Ein Begriff kann, wenn er in unterschiedlichen Gesetzen oder sogar an unterschiedlichen Stellen eines Gesetzes verwendet wird, eine unterschiedliche Bedeutung haben (Relativität der Rechtsbegriffe).
3. Allgemeiner methodologischer Ansatz
Vor dem Hintergrund der Relativität der Rechtsbegriffe hat sich im Steuerrecht der allgemeine methodologische Ansatz durchgesetzt. Durch Auslegung anhand von Wortlaut, Historie, Systematik und Telos wird geprüft, ob ein zivilrechtlich vorgeprägtes Tatbestandsmerkmal seine zivilrechtliche Bedeutung im Steuerrecht behält. Das BVerfG hat diesen allgemeinen methodologischen Ansatz für das Steuerrecht 1991 bestätigt und sich von früheren Entscheidungen, in denen di...